unterging. Was wir Herrliches von dem reinen sin¬ nigen Familienleben, von der Heldenkunst und Hel¬ denpoesie der Germanen vernehmen, ist mit ihnen selbst von der Zeit verschlungen worden. Erst das Mittelalter hinterließ uns unsterbliche Denkmäler der Kunst, weil in ihm die Poesie aus dem Leben schon in die Beschaulichkeit überging, doch war es vorzüg¬ lich die bildende Kunst, der die Deutschen damals sich ergaben, weil sie die ersten gewaltigen Züge der innern poetischen Welt in der riesenhaften und ewi¬ gen Steinschrift der Natur entwerfen mußten. Die neueste Zeit ist von diesen einfachen Zügen abgewi¬ chen, wie immer mehr die Betrachtung zu dem Man¬ nigfaltigen und Widersprechenden sich fortgerissen sah und der unermeßlichen gährenden Geisterwelt konnten nur noch die redenden Künste dienen, die den kühn¬ sten und verwickelsten Labyrinthen des Gedankens und der Phantasie zu folgen im Stande sind.
Darum herrscht die Dichtkunst jetzt vor allen an¬ dern Künsten, und ihre Trägerin wird mit der Spra¬ che die Literatur. Schöne Kunst und schöne Literatur oder Belletristik ist daher beinahe gleichbedeutend ge¬ worden. Ehe wir aber die Dichtkunst betrachten, wol¬ len wir einen Augenblick bei der ziemlich dürftigen Literatur verweilen, welche das Schöne und die Kunst im Allgemeinen und die übrigen Künste, außer der Dichtkunst, behandelt.
Die Ästhetik oder Wissenschaft vom Schönen hat die Deutschen auf doppelte Weise immer mehr
unterging. Was wir Herrliches von dem reinen ſin¬ nigen Familienleben, von der Heldenkunſt und Hel¬ denpoeſie der Germanen vernehmen, iſt mit ihnen ſelbſt von der Zeit verſchlungen worden. Erſt das Mittelalter hinterließ uns unſterbliche Denkmaͤler der Kunſt, weil in ihm die Poeſie aus dem Leben ſchon in die Beſchaulichkeit uͤberging, doch war es vorzuͤg¬ lich die bildende Kunſt, der die Deutſchen damals ſich ergaben, weil ſie die erſten gewaltigen Zuͤge der innern poetiſchen Welt in der rieſenhaften und ewi¬ gen Steinſchrift der Natur entwerfen mußten. Die neueſte Zeit iſt von dieſen einfachen Zuͤgen abgewi¬ chen, wie immer mehr die Betrachtung zu dem Man¬ nigfaltigen und Widerſprechenden ſich fortgeriſſen ſah und der unermeßlichen gaͤhrenden Geiſterwelt konnten nur noch die redenden Kuͤnſte dienen, die den kuͤhn¬ ſten und verwickelſten Labyrinthen des Gedankens und der Phantaſie zu folgen im Stande ſind.
Darum herrſcht die Dichtkunſt jetzt vor allen an¬ dern Kuͤnſten, und ihre Traͤgerin wird mit der Spra¬ che die Literatur. Schoͤne Kunſt und ſchoͤne Literatur oder Belletriſtik iſt daher beinahe gleichbedeutend ge¬ worden. Ehe wir aber die Dichtkunſt betrachten, wol¬ len wir einen Augenblick bei der ziemlich duͤrftigen Literatur verweilen, welche das Schoͤne und die Kunſt im Allgemeinen und die uͤbrigen Kuͤnſte, außer der Dichtkunſt, behandelt.
Die Äſthetik oder Wiſſenſchaft vom Schoͤnen hat die Deutſchen auf doppelte Weiſe immer mehr
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unterging. Was wir Herrliches von dem reinen ſin¬
nigen Familienleben, von der Heldenkunſt und Hel¬
denpoeſie der Germanen vernehmen, iſt mit ihnen
ſelbſt von der Zeit verſchlungen worden. Erſt das
Mittelalter hinterließ uns unſterbliche Denkmaͤler der
Kunſt, weil in ihm die Poeſie aus dem Leben ſchon
in die Beſchaulichkeit uͤberging, doch war es vorzuͤg¬
lich die bildende Kunſt, der die Deutſchen damals
ſich ergaben, weil ſie die erſten gewaltigen Zuͤge der
innern poetiſchen Welt in der rieſenhaften und ewi¬
gen Steinſchrift der Natur entwerfen mußten. Die
neueſte Zeit iſt von dieſen einfachen Zuͤgen abgewi¬
chen, wie immer mehr die Betrachtung zu dem Man¬
nigfaltigen und Widerſprechenden ſich fortgeriſſen ſah
und der unermeßlichen gaͤhrenden Geiſterwelt konnten
nur noch die redenden Kuͤnſte dienen, die den kuͤhn¬
ſten und verwickelſten Labyrinthen des Gedankens und
der Phantaſie zu folgen im Stande ſind.
Darum herrſcht die Dichtkunſt jetzt vor allen an¬
dern Kuͤnſten, und ihre Traͤgerin wird mit der Spra¬
che die Literatur. Schoͤne Kunſt und ſchoͤne Literatur
oder Belletriſtik iſt daher beinahe gleichbedeutend ge¬
worden. Ehe wir aber die Dichtkunſt betrachten, wol¬
len wir einen Augenblick bei der ziemlich duͤrftigen
Literatur verweilen, welche das Schoͤne und die Kunſt
im Allgemeinen und die uͤbrigen Kuͤnſte, außer der
Dichtkunſt, behandelt.
Die Äſthetik oder Wiſſenſchaft vom Schoͤnen
hat die Deutſchen auf doppelte Weiſe immer mehr
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/56>, abgerufen am 27.04.2024.
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