Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

Diese vier und zwanzig Tage waren noch nicht
um, so geschah es, daß Tillsen über die wahre Be-
wandtniß der Sache auf einem ganz anderen Wege
aufgeklärt wurde, als er je vermuthen konnte.

In seiner Abwesenheit meldete sich eines Mor-
gens ein wohlgekleideter junger Mann im Tillsen'schen
Hause an, und die Frau führte ihn indeß in ein Sei-
tenzimmer, wo er ihren Gemahl erwarten möchte.
Sie selbst, obgleich durch seine sehr vielversprechende
und auffallend angenehme Gesichtsbildung nicht wenig
interessirt, entfernte sich sogleich wieder, weil die zer-
streute Unruhe seiner Miene ihr hinlänglich sagte,
daß eine weitere Ansprache hier nicht am Platze seyn
würde. Nach einer Viertelstunde erst trat der Maler
in das bezeichnete Kabinet. Er fand den jungen Mann
nachdenkend, den Kopf in beide Hände gestüzt, auf
einem Stuhle sitzen, den Rücken ihm zugewandt und
dem großen Gemälde gegenüber, das, bis auf die breit
goldene Rahme, verhüllt an der Wand da hing. Der
Maler, einigermaßen verwundert, trat stillschweigend
näher, worauf dann der Andere erschrocken auffuhr,
indem er zugleich hinter einer angenehmen, verlegenen
Freundlichkeit die Thränen zu verstecken suchte, worin
er sichtbar überrascht worden war. "Ich komme," fing
er jezt mit heiterm Freimuthe an, "ich komme in der
wunderlichsten und zugleich in der erfreulichsten An-
gelegenheit vor Ihr Angesicht, verehrter Mann!
Meine Person ist Ihnen unbekannt, dennoch haben

Dieſe vier und zwanzig Tage waren noch nicht
um, ſo geſchah es, daß Tillſen über die wahre Be-
wandtniß der Sache auf einem ganz anderen Wege
aufgeklärt wurde, als er je vermuthen konnte.

In ſeiner Abweſenheit meldete ſich eines Mor-
gens ein wohlgekleideter junger Mann im Tillſen’ſchen
Hauſe an, und die Frau führte ihn indeß in ein Sei-
tenzimmer, wo er ihren Gemahl erwarten möchte.
Sie ſelbſt, obgleich durch ſeine ſehr vielverſprechende
und auffallend angenehme Geſichtsbildung nicht wenig
intereſſirt, entfernte ſich ſogleich wieder, weil die zer-
ſtreute Unruhe ſeiner Miene ihr hinlänglich ſagte,
daß eine weitere Anſprache hier nicht am Platze ſeyn
würde. Nach einer Viertelſtunde erſt trat der Maler
in das bezeichnete Kabinet. Er fand den jungen Mann
nachdenkend, den Kopf in beide Hände geſtüzt, auf
einem Stuhle ſitzen, den Rücken ihm zugewandt und
dem großen Gemälde gegenüber, das, bis auf die breit
goldene Rahme, verhüllt an der Wand da hing. Der
Maler, einigermaßen verwundert, trat ſtillſchweigend
näher, worauf dann der Andere erſchrocken auffuhr,
indem er zugleich hinter einer angenehmen, verlegenen
Freundlichkeit die Thränen zu verſtecken ſuchte, worin
er ſichtbar überraſcht worden war. „Ich komme,“ fing
er jezt mit heiterm Freimuthe an, „ich komme in der
wunderlichſten und zugleich in der erfreulichſten An-
gelegenheit vor Ihr Angeſicht, verehrter Mann!
Meine Perſon iſt Ihnen unbekannt, dennoch haben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0028" n="20"/>
          <p>Die&#x017F;e vier und zwanzig Tage waren noch nicht<lb/>
um, &#x017F;o ge&#x017F;chah es, daß <hi rendition="#g">Till&#x017F;en</hi> über die wahre Be-<lb/>
wandtniß der Sache auf einem ganz anderen Wege<lb/>
aufgeklärt wurde, als er je vermuthen konnte.</p><lb/>
          <p>In &#x017F;einer Abwe&#x017F;enheit meldete &#x017F;ich eines Mor-<lb/>
gens ein wohlgekleideter junger Mann im <hi rendition="#g">Till&#x017F;en</hi>&#x2019;&#x017F;chen<lb/>
Hau&#x017F;e an, und die Frau führte ihn indeß in ein Sei-<lb/>
tenzimmer, wo er ihren Gemahl erwarten möchte.<lb/>
Sie &#x017F;elb&#x017F;t, obgleich durch &#x017F;eine &#x017F;ehr vielver&#x017F;prechende<lb/>
und auffallend angenehme Ge&#x017F;ichtsbildung nicht wenig<lb/>
intere&#x017F;&#x017F;irt, entfernte &#x017F;ich &#x017F;ogleich wieder, weil die zer-<lb/>
&#x017F;treute Unruhe &#x017F;einer Miene ihr hinlänglich &#x017F;agte,<lb/>
daß eine weitere An&#x017F;prache hier nicht am Platze &#x017F;eyn<lb/>
würde. Nach einer Viertel&#x017F;tunde er&#x017F;t trat der Maler<lb/>
in das bezeichnete Kabinet. Er fand den jungen Mann<lb/>
nachdenkend, den Kopf in beide Hände ge&#x017F;tüzt, auf<lb/>
einem Stuhle &#x017F;itzen, den Rücken ihm zugewandt und<lb/>
dem großen Gemälde gegenüber, das, bis auf die breit<lb/>
goldene Rahme, verhüllt an der Wand da hing. Der<lb/>
Maler, einigermaßen verwundert, trat &#x017F;till&#x017F;chweigend<lb/>
näher, worauf dann der Andere er&#x017F;chrocken auffuhr,<lb/>
indem er zugleich hinter einer angenehmen, verlegenen<lb/>
Freundlichkeit die Thränen zu ver&#x017F;tecken &#x017F;uchte, worin<lb/>
er &#x017F;ichtbar überra&#x017F;cht worden war. &#x201E;Ich komme,&#x201C; fing<lb/>
er jezt mit heiterm Freimuthe an, &#x201E;ich komme in der<lb/>
wunderlich&#x017F;ten und zugleich in der erfreulich&#x017F;ten An-<lb/>
gelegenheit vor Ihr Ange&#x017F;icht, verehrter Mann!<lb/>
Meine Per&#x017F;on i&#x017F;t Ihnen unbekannt, dennoch haben<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0028] Dieſe vier und zwanzig Tage waren noch nicht um, ſo geſchah es, daß Tillſen über die wahre Be- wandtniß der Sache auf einem ganz anderen Wege aufgeklärt wurde, als er je vermuthen konnte. In ſeiner Abweſenheit meldete ſich eines Mor- gens ein wohlgekleideter junger Mann im Tillſen’ſchen Hauſe an, und die Frau führte ihn indeß in ein Sei- tenzimmer, wo er ihren Gemahl erwarten möchte. Sie ſelbſt, obgleich durch ſeine ſehr vielverſprechende und auffallend angenehme Geſichtsbildung nicht wenig intereſſirt, entfernte ſich ſogleich wieder, weil die zer- ſtreute Unruhe ſeiner Miene ihr hinlänglich ſagte, daß eine weitere Anſprache hier nicht am Platze ſeyn würde. Nach einer Viertelſtunde erſt trat der Maler in das bezeichnete Kabinet. Er fand den jungen Mann nachdenkend, den Kopf in beide Hände geſtüzt, auf einem Stuhle ſitzen, den Rücken ihm zugewandt und dem großen Gemälde gegenüber, das, bis auf die breit goldene Rahme, verhüllt an der Wand da hing. Der Maler, einigermaßen verwundert, trat ſtillſchweigend näher, worauf dann der Andere erſchrocken auffuhr, indem er zugleich hinter einer angenehmen, verlegenen Freundlichkeit die Thränen zu verſtecken ſuchte, worin er ſichtbar überraſcht worden war. „Ich komme,“ fing er jezt mit heiterm Freimuthe an, „ich komme in der wunderlichſten und zugleich in der erfreulichſten An- gelegenheit vor Ihr Angeſicht, verehrter Mann! Meine Perſon iſt Ihnen unbekannt, dennoch haben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/28
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/28>, abgerufen am 26.04.2024.