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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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1. Der Staat ist immer ungenügend gewesen wegen
mangelhafter Grundanlage. Es kann etwa die Staatsgewalt zu
schwach angelegt, der zur Erreichung der Aufgaben nöthige
Behördenorganismus nicht bestellt, eine mit dem Wesen des
bestimmten Staates unvereinbare Thatsache nicht beseitigt, eine
dem Geiste und den Gewohnheiten des Volkes zuwider laufende
Verfassungsform gewählt worden sein 1).

2. Die Staatseinrichtungen sind allmälig in Verderb-
niß übergegangen
, so daß sie nicht mehr zweckgemäß
wirken, vielleicht positiv schaden 2).

3. Die zur Erhaltung des Staates in seiner bisherigen
Weise zu bringenden Opfer sind zu schwer geworden, sei
es wegen Steigerung der Forderungen, sei es wegen vermin-
derter Leistungsfähigkeit 3).

4. Die Lebenszwecke des Volkes haben sich geändert,
so daß z. B. an die Stelle einer gläubig frommen Auffassung
eine bloß verstandesmäßige, an die Stelle eines vegetativen
Stammeslebens eine vielseitig thätige Entwickelung aller Kräfte
getreten ist, oder daß ein bisher den Zwecken eines anderen
Landes willenlos dienendes Volk seine eigenen Zwecke verfolgen,
ein von der Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten
ausgeschlossenes bei denselben mitwirken will 4).

Eine Verbesserung offenbarer Mißstände, und namentlich
also eines Widerspruches zwischen Mittel und Zweck, ist logisch,
rechtlich und sittlich nothwendig; und jede Bestimmung, welche
eine Unveränderlichkeit von Staatseinrichtungen unbedingt fest-
stellt, ist deßhalb widersinnig und unerlaubt. Nur wer einen,
mit der Geschichte in vollkommenstem Widerspruch stehenden,
völligen Stillstand des ganzen geistigen Lebens der Völker, und
zu gleicher Zeit ein Gleichbleiben aller ihrer sachlichen Bedürf-
nisse behauptete, könnte dieses läugnen. Vor Allem aber ist
die lange Dauer eines ungenügenden staatlichen Zustandes kein

1. Der Staat iſt immer ungenügend geweſen wegen
mangelhafter Grundanlage. Es kann etwa die Staatsgewalt zu
ſchwach angelegt, der zur Erreichung der Aufgaben nöthige
Behördenorganismus nicht beſtellt, eine mit dem Weſen des
beſtimmten Staates unvereinbare Thatſache nicht beſeitigt, eine
dem Geiſte und den Gewohnheiten des Volkes zuwider laufende
Verfaſſungsform gewählt worden ſein 1).

2. Die Staatseinrichtungen ſind allmälig in Verderb-
niß übergegangen
, ſo daß ſie nicht mehr zweckgemäß
wirken, vielleicht poſitiv ſchaden 2).

3. Die zur Erhaltung des Staates in ſeiner bisherigen
Weiſe zu bringenden Opfer ſind zu ſchwer geworden, ſei
es wegen Steigerung der Forderungen, ſei es wegen vermin-
derter Leiſtungsfähigkeit 3).

4. Die Lebenszwecke des Volkes haben ſich geändert,
ſo daß z. B. an die Stelle einer gläubig frommen Auffaſſung
eine bloß verſtandesmäßige, an die Stelle eines vegetativen
Stammeslebens eine vielſeitig thätige Entwickelung aller Kräfte
getreten iſt, oder daß ein bisher den Zwecken eines anderen
Landes willenlos dienendes Volk ſeine eigenen Zwecke verfolgen,
ein von der Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten
ausgeſchloſſenes bei denſelben mitwirken will 4).

Eine Verbeſſerung offenbarer Mißſtände, und namentlich
alſo eines Widerſpruches zwiſchen Mittel und Zweck, iſt logiſch,
rechtlich und ſittlich nothwendig; und jede Beſtimmung, welche
eine Unveränderlichkeit von Staatseinrichtungen unbedingt feſt-
ſtellt, iſt deßhalb widerſinnig und unerlaubt. Nur wer einen,
mit der Geſchichte in vollkommenſtem Widerſpruch ſtehenden,
völligen Stillſtand des ganzen geiſtigen Lebens der Völker, und
zu gleicher Zeit ein Gleichbleiben aller ihrer ſachlichen Bedürf-
niſſe behauptete, könnte dieſes läugnen. Vor Allem aber iſt
die lange Dauer eines ungenügenden ſtaatlichen Zuſtandes kein

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[159/0173] 1. Der Staat iſt immer ungenügend geweſen wegen mangelhafter Grundanlage. Es kann etwa die Staatsgewalt zu ſchwach angelegt, der zur Erreichung der Aufgaben nöthige Behördenorganismus nicht beſtellt, eine mit dem Weſen des beſtimmten Staates unvereinbare Thatſache nicht beſeitigt, eine dem Geiſte und den Gewohnheiten des Volkes zuwider laufende Verfaſſungsform gewählt worden ſein 1). 2. Die Staatseinrichtungen ſind allmälig in Verderb- niß übergegangen, ſo daß ſie nicht mehr zweckgemäß wirken, vielleicht poſitiv ſchaden 2). 3. Die zur Erhaltung des Staates in ſeiner bisherigen Weiſe zu bringenden Opfer ſind zu ſchwer geworden, ſei es wegen Steigerung der Forderungen, ſei es wegen vermin- derter Leiſtungsfähigkeit 3). 4. Die Lebenszwecke des Volkes haben ſich geändert, ſo daß z. B. an die Stelle einer gläubig frommen Auffaſſung eine bloß verſtandesmäßige, an die Stelle eines vegetativen Stammeslebens eine vielſeitig thätige Entwickelung aller Kräfte getreten iſt, oder daß ein bisher den Zwecken eines anderen Landes willenlos dienendes Volk ſeine eigenen Zwecke verfolgen, ein von der Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten ausgeſchloſſenes bei denſelben mitwirken will 4). Eine Verbeſſerung offenbarer Mißſtände, und namentlich alſo eines Widerſpruches zwiſchen Mittel und Zweck, iſt logiſch, rechtlich und ſittlich nothwendig; und jede Beſtimmung, welche eine Unveränderlichkeit von Staatseinrichtungen unbedingt feſt- ſtellt, iſt deßhalb widerſinnig und unerlaubt. Nur wer einen, mit der Geſchichte in vollkommenſtem Widerſpruch ſtehenden, völligen Stillſtand des ganzen geiſtigen Lebens der Völker, und zu gleicher Zeit ein Gleichbleiben aller ihrer ſachlichen Bedürf- niſſe behauptete, könnte dieſes läugnen. Vor Allem aber iſt die lange Dauer eines ungenügenden ſtaatlichen Zuſtandes kein

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/173>, abgerufen am 26.04.2024.