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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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dem Vertrage war, vollständig wieder eintritt. Aus innern
Gründen hört die Gültigkeit eines auf unbestimmte Zeit abge-
schlossenen und ursprünglich rechtskräftig gewesenen Vertrages
nur dann auf, wenn eine thatsächliche oder rechtliche Unmög-
lichkeit der Weiterleistung eintritt; wobei aber Doppeltes zu
bemerken ist. Einmal ist es keinem der Contrahenten gestattet,
durch eine eigene freiwillige Handlung sich in die rechtliche
Unmöglichkeit einer Weiterleistung zu versetzen. Zweitens aber
ist als eine thatsächliche Unmöglichkeit zu erachten, wenn die
Weiterleistung mit dem Fortbestehen des Staates in Beziehung
auf Unabhängigkeit, Erreichung seiner allgemeinen Zwecke oder
Erhaltung der unentbehrlichen Mittel unvereinbar wäre 5).

1) Die Staatsverträge sind zwar, namentlich in früheren Zeiten, viel-
fach Gegenstand von Bearbeitungen gewesen, (s. Ompteda, Bd. II, S.
583 fg.; Kamptz, S. 270 fg.;) auch bildet ihre Erörterung, selbstver-
ständlich, einen wesentlichen Theil der allgemeinen Systeme des Völker-
rechtes: allein es gebricht doch bis jetzt an einer gründlichen und erschöpfenden
monographischen Behandlung.
2) Die besondere Ratifikation der Staatsverträge durch die beiderseitigen
Staatsoberhäupter, ist allerdings nach positivem europäischem Völkerrechte
unerläßlich, auch wenn eine ganz allgemeine und unbedingte Vollmacht
zur Abschließung ertheilt war. Das philosophische Völkerrecht kennt jedoch
eine so weitgehende Nothwendigkeit nicht, da offenbar ein rechtlicher Grund
nicht vorhanden ist, welcher eine Bevollmächtigung auf die Unterhandlung
beschränkte, die Abschließung aber ausschlösse. Es ist Sache des Auftrag
Gebenden, die Gränzen seiner Vollmacht nach Umständen und allgemeinen
Klugheitsregeln zu bestimmen; allein rechtlich mag er unzweifelhaft Auftrag
bis zum völligen Abschlusse ertheilen. Am wenigsten kann eingeräumt werden,
daß bei einer Ratifikation ein unbedingt gegebenes Versprechen nach Gut-
dünken zurückgezogen werden könne.
3) Bei der Anwendung des Satzes, daß ein erzwungener Vertrag un-
gültig sei, muß mit großer Vorsicht und offener Rechtlichkeit verfahren
werden, wenn nicht namentlich die Gültigkeit aller Friedensschlüsse, somit
gerade der wichtigsten aller Verträge, in Frage gestellt sein soll. Ein Friedens-
schluß mag ungültig sein, wenn das besiegte Staatsoberhaupt persönlich in
den Händen des Gegners war und hier mit physischer Gewalt oder Drohung
persönlicher Gefahr zum Abschlusse genöthigt wurde. Allein die bloße

dem Vertrage war, vollſtändig wieder eintritt. Aus innern
Gründen hört die Gültigkeit eines auf unbeſtimmte Zeit abge-
ſchloſſenen und urſprünglich rechtskräftig geweſenen Vertrages
nur dann auf, wenn eine thatſächliche oder rechtliche Unmög-
lichkeit der Weiterleiſtung eintritt; wobei aber Doppeltes zu
bemerken iſt. Einmal iſt es keinem der Contrahenten geſtattet,
durch eine eigene freiwillige Handlung ſich in die rechtliche
Unmöglichkeit einer Weiterleiſtung zu verſetzen. Zweitens aber
iſt als eine thatſächliche Unmöglichkeit zu erachten, wenn die
Weiterleiſtung mit dem Fortbeſtehen des Staates in Beziehung
auf Unabhängigkeit, Erreichung ſeiner allgemeinen Zwecke oder
Erhaltung der unentbehrlichen Mittel unvereinbar wäre 5).

1) Die Staatsverträge ſind zwar, namentlich in früheren Zeiten, viel-
fach Gegenſtand von Bearbeitungen geweſen, (ſ. Ompteda, Bd. II, S.
583 fg.; Kamptz, S. 270 fg.;) auch bildet ihre Erörterung, ſelbſtver-
ſtändlich, einen weſentlichen Theil der allgemeinen Syſteme des Völker-
rechtes: allein es gebricht doch bis jetzt an einer gründlichen und erſchöpfenden
monographiſchen Behandlung.
2) Die beſondere Ratifikation der Staatsverträge durch die beiderſeitigen
Staatsoberhäupter, iſt allerdings nach poſitivem europäiſchem Völkerrechte
unerläßlich, auch wenn eine ganz allgemeine und unbedingte Vollmacht
zur Abſchließung ertheilt war. Das philoſophiſche Völkerrecht kennt jedoch
eine ſo weitgehende Nothwendigkeit nicht, da offenbar ein rechtlicher Grund
nicht vorhanden iſt, welcher eine Bevollmächtigung auf die Unterhandlung
beſchränkte, die Abſchließung aber ausſchlöſſe. Es iſt Sache des Auftrag
Gebenden, die Gränzen ſeiner Vollmacht nach Umſtänden und allgemeinen
Klugheitsregeln zu beſtimmen; allein rechtlich mag er unzweifelhaft Auftrag
bis zum völligen Abſchluſſe ertheilen. Am wenigſten kann eingeräumt werden,
daß bei einer Ratifikation ein unbedingt gegebenes Verſprechen nach Gut-
dünken zurückgezogen werden könne.
3) Bei der Anwendung des Satzes, daß ein erzwungener Vertrag un-
gültig ſei, muß mit großer Vorſicht und offener Rechtlichkeit verfahren
werden, wenn nicht namentlich die Gültigkeit aller Friedensſchlüſſe, ſomit
gerade der wichtigſten aller Verträge, in Frage geſtellt ſein ſoll. Ein Friedens-
ſchluß mag ungültig ſein, wenn das beſiegte Staatsoberhaupt perſönlich in
den Händen des Gegners war und hier mit phyſiſcher Gewalt oder Drohung
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[442/0456] dem Vertrage war, vollſtändig wieder eintritt. Aus innern Gründen hört die Gültigkeit eines auf unbeſtimmte Zeit abge- ſchloſſenen und urſprünglich rechtskräftig geweſenen Vertrages nur dann auf, wenn eine thatſächliche oder rechtliche Unmög- lichkeit der Weiterleiſtung eintritt; wobei aber Doppeltes zu bemerken iſt. Einmal iſt es keinem der Contrahenten geſtattet, durch eine eigene freiwillige Handlung ſich in die rechtliche Unmöglichkeit einer Weiterleiſtung zu verſetzen. Zweitens aber iſt als eine thatſächliche Unmöglichkeit zu erachten, wenn die Weiterleiſtung mit dem Fortbeſtehen des Staates in Beziehung auf Unabhängigkeit, Erreichung ſeiner allgemeinen Zwecke oder Erhaltung der unentbehrlichen Mittel unvereinbar wäre 5). ¹⁾ Die Staatsverträge ſind zwar, namentlich in früheren Zeiten, viel- fach Gegenſtand von Bearbeitungen geweſen, (ſ. Ompteda, Bd. II, S. 583 fg.; Kamptz, S. 270 fg.;) auch bildet ihre Erörterung, ſelbſtver- ſtändlich, einen weſentlichen Theil der allgemeinen Syſteme des Völker- rechtes: allein es gebricht doch bis jetzt an einer gründlichen und erſchöpfenden monographiſchen Behandlung. ²⁾ Die beſondere Ratifikation der Staatsverträge durch die beiderſeitigen Staatsoberhäupter, iſt allerdings nach poſitivem europäiſchem Völkerrechte unerläßlich, auch wenn eine ganz allgemeine und unbedingte Vollmacht zur Abſchließung ertheilt war. Das philoſophiſche Völkerrecht kennt jedoch eine ſo weitgehende Nothwendigkeit nicht, da offenbar ein rechtlicher Grund nicht vorhanden iſt, welcher eine Bevollmächtigung auf die Unterhandlung beſchränkte, die Abſchließung aber ausſchlöſſe. Es iſt Sache des Auftrag Gebenden, die Gränzen ſeiner Vollmacht nach Umſtänden und allgemeinen Klugheitsregeln zu beſtimmen; allein rechtlich mag er unzweifelhaft Auftrag bis zum völligen Abſchluſſe ertheilen. Am wenigſten kann eingeräumt werden, daß bei einer Ratifikation ein unbedingt gegebenes Verſprechen nach Gut- dünken zurückgezogen werden könne. ³⁾ Bei der Anwendung des Satzes, daß ein erzwungener Vertrag un- gültig ſei, muß mit großer Vorſicht und offener Rechtlichkeit verfahren werden, wenn nicht namentlich die Gültigkeit aller Friedensſchlüſſe, ſomit gerade der wichtigſten aller Verträge, in Frage geſtellt ſein ſoll. Ein Friedens- ſchluß mag ungültig ſein, wenn das beſiegte Staatsoberhaupt perſönlich in den Händen des Gegners war und hier mit phyſiſcher Gewalt oder Drohung perſönlicher Gefahr zum Abſchluſſe genöthigt wurde. Allein die bloße

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/456>, abgerufen am 26.04.2024.