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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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3) Hier muß denn unterschieden werden zwischen unbedingt Unver-
nünftigem und nur bedingt Verwerflichem, je nachdem eine Einrichtung
in jeder Art von Staat sinnlos und zweckwidrig ist, weil ein geordnetes Zu-
sammenleben überhaupt unmöglich machend, oder sie nur im Widerspruche
mit einer bestimmten Staatsgattung steht. -- Unbedingt unvernünftige Ein-
richtungen sind z. B.: Befreiungen ganzer Klassen Leistungsfähiger von
jeder Tragung der Staatskosten; unantastbare Asyle für Verbrecher; unlös-
barer Dualismus im Staatswillen; das liberum veto eines einzelnen
Unterthanen oder Mitgliedes einer regierenden Versammlung. -- Nur be-
dingt unvernünstig ist dagegen eine Ueberlassung der Rechtspflege an die
Priester einer bestimmten Religion, in so ferne diese Einrichtung allerdings
in der großen Mehrzahl der Staaten weder dem Verhältnisse des Staates
zu den kirchlichen Gesellschaften nach dem Begriffe und Bedürfnisse der Rechts-
pflege entspricht, sie dagegen in einer Theokratie als ganz folgerichtig und
selbst nothwendig erscheint. So das allgemeine Gebot einer öffentlichen Ge-
sammterziehung aller Kinder, welches nur in dem klassischen Staate eine
genügende Rechtfertigung findet, überall sonst aber in die Ansprüche auf
individuelle Entwicklung und in die Rechte der Aeltern eingreift. Ferner
die Untersagung von Versammlungen zur Besprechung staatlicher Fragen,
als welche zwar nicht in einer Demokratie oder in einer repräsentativen
Monarchie, wohl aber in einer unbeschränkten Fürstenherrschaft, einer Ari-
stokratie, einer Theokratie an der Stelle ist.
4) Ueber das Bedürfniß hinaus gehende und somit unsittliche Rechte
sind: eine allzu große Civilliste; eine Ausdehnung des Begriffs des Maje-
stätsverbrechens auf unschuldige Handlungen; Einräumung von Rechten an
die Staatsbeamten, welche weder durch die Nothwendigkeit einer Gewinnung
tüchtiger Männer für den öffentlichen Dienst, noch durch das Bedürfniß
einer hinreichenden Macht zur Führung des Amtes geboten sind. -- Nicht
wohl der Bemerkung bedarf es, daß die Verschiedenheit der Staaten auch
in dieser Beziehung einen großen Unterschied macht. Persönliche Bevor-
rechtungen einer Priesterschaft mögen z. B. in einer Theokratie nützlich und
nöthig sein, während sie im Rechtsstaate keinen Zweck haben und somit ein
Anspruch auf Gleiches als eine unsittliche Anmaßung zu verwerfen ist. Die
im klassischen Staate ganz zweckmäßige Sitten-Censur und Luxus-Polizei ist
in solcher Weise und Ausdehnung in allen jenen Staatsgattungen verwerf-
lich, welche kein gemeinschaftliches Leben aller ihrer Theile beabsichtigen.
5) Am schwierigsten wird die Erfüllung dieser sittlichen Pflicht in der
Theokratie sein, weil ihr doch nicht zugemuthet werden kann, selbst einen
Zweifel in die unbedingte Wahrheit und ewige Dauer der von der Gottheit
selbst angeblich ertheilten Gesetze auszusprechen. -- Im Uebrigen vgl. J. G.
Fichte, System der Sittenlehre, S. 468.
3) Hier muß denn unterſchieden werden zwiſchen unbedingt Unver-
nünftigem und nur bedingt Verwerflichem, je nachdem eine Einrichtung
in jeder Art von Staat ſinnlos und zweckwidrig iſt, weil ein geordnetes Zu-
ſammenleben überhaupt unmöglich machend, oder ſie nur im Widerſpruche
mit einer beſtimmten Staatsgattung ſteht. — Unbedingt unvernünftige Ein-
richtungen ſind z. B.: Befreiungen ganzer Klaſſen Leiſtungsfähiger von
jeder Tragung der Staatskoſten; unantaſtbare Aſyle für Verbrecher; unlös-
barer Dualismus im Staatswillen; das liberum veto eines einzelnen
Unterthanen oder Mitgliedes einer regierenden Verſammlung. — Nur be-
dingt unvernünſtig iſt dagegen eine Ueberlaſſung der Rechtspflege an die
Prieſter einer beſtimmten Religion, in ſo ferne dieſe Einrichtung allerdings
in der großen Mehrzahl der Staaten weder dem Verhältniſſe des Staates
zu den kirchlichen Geſellſchaften nach dem Begriffe und Bedürfniſſe der Rechts-
pflege entſpricht, ſie dagegen in einer Theokratie als ganz folgerichtig und
ſelbſt nothwendig erſcheint. So das allgemeine Gebot einer öffentlichen Ge-
ſammterziehung aller Kinder, welches nur in dem klaſſiſchen Staate eine
genügende Rechtfertigung findet, überall ſonſt aber in die Anſprüche auf
individuelle Entwicklung und in die Rechte der Aeltern eingreift. Ferner
die Unterſagung von Verſammlungen zur Beſprechung ſtaatlicher Fragen,
als welche zwar nicht in einer Demokratie oder in einer repräſentativen
Monarchie, wohl aber in einer unbeſchränkten Fürſtenherrſchaft, einer Ari-
ſtokratie, einer Theokratie an der Stelle iſt.
4) Ueber das Bedürfniß hinaus gehende und ſomit unſittliche Rechte
ſind: eine allzu große Civilliſte; eine Ausdehnung des Begriffs des Maje-
ſtätsverbrechens auf unſchuldige Handlungen; Einräumung von Rechten an
die Staatsbeamten, welche weder durch die Nothwendigkeit einer Gewinnung
tüchtiger Männer für den öffentlichen Dienſt, noch durch das Bedürfniß
einer hinreichenden Macht zur Führung des Amtes geboten ſind. — Nicht
wohl der Bemerkung bedarf es, daß die Verſchiedenheit der Staaten auch
in dieſer Beziehung einen großen Unterſchied macht. Perſönliche Bevor-
rechtungen einer Prieſterſchaft mögen z. B. in einer Theokratie nützlich und
nöthig ſein, während ſie im Rechtsſtaate keinen Zweck haben und ſomit ein
Anſpruch auf Gleiches als eine unſittliche Anmaßung zu verwerfen iſt. Die
im klaſſiſchen Staate ganz zweckmäßige Sitten-Cenſur und Luxus-Polizei iſt
in ſolcher Weiſe und Ausdehnung in allen jenen Staatsgattungen verwerf-
lich, welche kein gemeinſchaftliches Leben aller ihrer Theile beabſichtigen.
5) Am ſchwierigſten wird die Erfüllung dieſer ſittlichen Pflicht in der
Theokratie ſein, weil ihr doch nicht zugemuthet werden kann, ſelbſt einen
Zweifel in die unbedingte Wahrheit und ewige Dauer der von der Gottheit
ſelbſt angeblich ertheilten Geſetze auszuſprechen. — Im Uebrigen vgl. J. G.
Fichte, Syſtem der Sittenlehre, S. 468.
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[516/0530] ³⁾ Hier muß denn unterſchieden werden zwiſchen unbedingt Unver- nünftigem und nur bedingt Verwerflichem, je nachdem eine Einrichtung in jeder Art von Staat ſinnlos und zweckwidrig iſt, weil ein geordnetes Zu- ſammenleben überhaupt unmöglich machend, oder ſie nur im Widerſpruche mit einer beſtimmten Staatsgattung ſteht. — Unbedingt unvernünftige Ein- richtungen ſind z. B.: Befreiungen ganzer Klaſſen Leiſtungsfähiger von jeder Tragung der Staatskoſten; unantaſtbare Aſyle für Verbrecher; unlös- barer Dualismus im Staatswillen; das liberum veto eines einzelnen Unterthanen oder Mitgliedes einer regierenden Verſammlung. — Nur be- dingt unvernünſtig iſt dagegen eine Ueberlaſſung der Rechtspflege an die Prieſter einer beſtimmten Religion, in ſo ferne dieſe Einrichtung allerdings in der großen Mehrzahl der Staaten weder dem Verhältniſſe des Staates zu den kirchlichen Geſellſchaften nach dem Begriffe und Bedürfniſſe der Rechts- pflege entſpricht, ſie dagegen in einer Theokratie als ganz folgerichtig und ſelbſt nothwendig erſcheint. So das allgemeine Gebot einer öffentlichen Ge- ſammterziehung aller Kinder, welches nur in dem klaſſiſchen Staate eine genügende Rechtfertigung findet, überall ſonſt aber in die Anſprüche auf individuelle Entwicklung und in die Rechte der Aeltern eingreift. Ferner die Unterſagung von Verſammlungen zur Beſprechung ſtaatlicher Fragen, als welche zwar nicht in einer Demokratie oder in einer repräſentativen Monarchie, wohl aber in einer unbeſchränkten Fürſtenherrſchaft, einer Ari- ſtokratie, einer Theokratie an der Stelle iſt. ⁴⁾ Ueber das Bedürfniß hinaus gehende und ſomit unſittliche Rechte ſind: eine allzu große Civilliſte; eine Ausdehnung des Begriffs des Maje- ſtätsverbrechens auf unſchuldige Handlungen; Einräumung von Rechten an die Staatsbeamten, welche weder durch die Nothwendigkeit einer Gewinnung tüchtiger Männer für den öffentlichen Dienſt, noch durch das Bedürfniß einer hinreichenden Macht zur Führung des Amtes geboten ſind. — Nicht wohl der Bemerkung bedarf es, daß die Verſchiedenheit der Staaten auch in dieſer Beziehung einen großen Unterſchied macht. Perſönliche Bevor- rechtungen einer Prieſterſchaft mögen z. B. in einer Theokratie nützlich und nöthig ſein, während ſie im Rechtsſtaate keinen Zweck haben und ſomit ein Anſpruch auf Gleiches als eine unſittliche Anmaßung zu verwerfen iſt. Die im klaſſiſchen Staate ganz zweckmäßige Sitten-Cenſur und Luxus-Polizei iſt in ſolcher Weiſe und Ausdehnung in allen jenen Staatsgattungen verwerf- lich, welche kein gemeinſchaftliches Leben aller ihrer Theile beabſichtigen. ⁵⁾ Am ſchwierigſten wird die Erfüllung dieſer ſittlichen Pflicht in der Theokratie ſein, weil ihr doch nicht zugemuthet werden kann, ſelbſt einen Zweifel in die unbedingte Wahrheit und ewige Dauer der von der Gottheit ſelbſt angeblich ertheilten Geſetze auszuſprechen. — Im Uebrigen vgl. J. G. Fichte, Syſtem der Sittenlehre, S. 468.

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/530>, abgerufen am 26.04.2024.