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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Festhaltung, welche nur zum Unheile für Staat und Volk aus-
schlagen kann 1).

Die Verschiedenheit der Staatsarten ist natürlich von
großem Einflusse auf die besonderen Forderungen, welche an
das sittliche, über das erzwingbare Recht hinausgehende, Ver-
halten der zur Leitung der Staatsangelegenheiten Berufenen zu
stellen sind. Je mit dem Zwecke des Staates ändert sich auch
die Aufgabe für die Leitenden und Ausführenden. -- In einer
Patriarchie ist es Pflicht des Oberhauptes, daß es wirklich von
väterlichen und verwandtschaftlichen Gesinnungen gegen die
Mitglieder des Stammes durchdrungen sei und überhaupt das
ganze Verhältniß als ein rein menschliches auffasse. -- Ein Patri-
monialstaat verlangt jeden Falles streng rechtliche Sinnesweise,
welche nicht an dem Buchstaben der Verträge und Satzungen
klebt, noch weniger durch Benützung von Scheingründen und
schlauen Ausflüchten Versprechungen zu umgehen oder Ungebühr-
liches zu erlangen strebt; allein mit Fug kann auch noch von
dem Mächtigen und zur Ertheilung von Wohl und Wehe Be-
fähigten verlangt werden, daß er über das Recht hinaus Billig-
keit übe, freies Wohlwollen zeige und seiner Seits bei passenden
Gelegenheiten mehr leiste, als wozu er strenge genommen ge-
nöthigt ist. Namentlich ist es in diesem Verhältnisse Pflicht,
eine augenblickliche Verlegenheit der Unterthanen, im Ganzen
oder Einzelnen, nicht zu wohlfeiler Erkaufung einer unverhältniß-
mäßigen bleibenden Leistung auszubeuten. -- In der Theokratie
ist jeden Falles demüthiges Erkennen der göttlichen Gnade,
streng nach den religiösen Satzungen eingerichtetes Leben, vor-
wiegendes Streben nach dem Höheren und Geistigen Gewissens-
pflicht; in einer getheilten Theokratie aber kömmt noch sowohl für
das geistige als für das weltliche Haupt die schwierige Aufgabe
hinzu, die Stellung des Mitregenten nicht unnöthig zu er-
schweren durch äußerste Verfolgung des eigenen Rechtes, Frieden

Feſthaltung, welche nur zum Unheile für Staat und Volk aus-
ſchlagen kann 1).

Die Verſchiedenheit der Staatsarten iſt natürlich von
großem Einfluſſe auf die beſonderen Forderungen, welche an
das ſittliche, über das erzwingbare Recht hinausgehende, Ver-
halten der zur Leitung der Staatsangelegenheiten Berufenen zu
ſtellen ſind. Je mit dem Zwecke des Staates ändert ſich auch
die Aufgabe für die Leitenden und Ausführenden. — In einer
Patriarchie iſt es Pflicht des Oberhauptes, daß es wirklich von
väterlichen und verwandtſchaftlichen Geſinnungen gegen die
Mitglieder des Stammes durchdrungen ſei und überhaupt das
ganze Verhältniß als ein rein menſchliches auffaſſe. — Ein Patri-
monialſtaat verlangt jeden Falles ſtreng rechtliche Sinnesweiſe,
welche nicht an dem Buchſtaben der Verträge und Satzungen
klebt, noch weniger durch Benützung von Scheingründen und
ſchlauen Ausflüchten Verſprechungen zu umgehen oder Ungebühr-
liches zu erlangen ſtrebt; allein mit Fug kann auch noch von
dem Mächtigen und zur Ertheilung von Wohl und Wehe Be-
fähigten verlangt werden, daß er über das Recht hinaus Billig-
keit übe, freies Wohlwollen zeige und ſeiner Seits bei paſſenden
Gelegenheiten mehr leiſte, als wozu er ſtrenge genommen ge-
nöthigt iſt. Namentlich iſt es in dieſem Verhältniſſe Pflicht,
eine augenblickliche Verlegenheit der Unterthanen, im Ganzen
oder Einzelnen, nicht zu wohlfeiler Erkaufung einer unverhältniß-
mäßigen bleibenden Leiſtung auszubeuten. — In der Theokratie
iſt jeden Falles demüthiges Erkennen der göttlichen Gnade,
ſtreng nach den religiöſen Satzungen eingerichtetes Leben, vor-
wiegendes Streben nach dem Höheren und Geiſtigen Gewiſſens-
pflicht; in einer getheilten Theokratie aber kömmt noch ſowohl für
das geiſtige als für das weltliche Haupt die ſchwierige Aufgabe
hinzu, die Stellung des Mitregenten nicht unnöthig zu er-
ſchweren durch äußerſte Verfolgung des eigenen Rechtes, Frieden

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[518/0532] Feſthaltung, welche nur zum Unheile für Staat und Volk aus- ſchlagen kann 1). Die Verſchiedenheit der Staatsarten iſt natürlich von großem Einfluſſe auf die beſonderen Forderungen, welche an das ſittliche, über das erzwingbare Recht hinausgehende, Ver- halten der zur Leitung der Staatsangelegenheiten Berufenen zu ſtellen ſind. Je mit dem Zwecke des Staates ändert ſich auch die Aufgabe für die Leitenden und Ausführenden. — In einer Patriarchie iſt es Pflicht des Oberhauptes, daß es wirklich von väterlichen und verwandtſchaftlichen Geſinnungen gegen die Mitglieder des Stammes durchdrungen ſei und überhaupt das ganze Verhältniß als ein rein menſchliches auffaſſe. — Ein Patri- monialſtaat verlangt jeden Falles ſtreng rechtliche Sinnesweiſe, welche nicht an dem Buchſtaben der Verträge und Satzungen klebt, noch weniger durch Benützung von Scheingründen und ſchlauen Ausflüchten Verſprechungen zu umgehen oder Ungebühr- liches zu erlangen ſtrebt; allein mit Fug kann auch noch von dem Mächtigen und zur Ertheilung von Wohl und Wehe Be- fähigten verlangt werden, daß er über das Recht hinaus Billig- keit übe, freies Wohlwollen zeige und ſeiner Seits bei paſſenden Gelegenheiten mehr leiſte, als wozu er ſtrenge genommen ge- nöthigt iſt. Namentlich iſt es in dieſem Verhältniſſe Pflicht, eine augenblickliche Verlegenheit der Unterthanen, im Ganzen oder Einzelnen, nicht zu wohlfeiler Erkaufung einer unverhältniß- mäßigen bleibenden Leiſtung auszubeuten. — In der Theokratie iſt jeden Falles demüthiges Erkennen der göttlichen Gnade, ſtreng nach den religiöſen Satzungen eingerichtetes Leben, vor- wiegendes Streben nach dem Höheren und Geiſtigen Gewiſſens- pflicht; in einer getheilten Theokratie aber kömmt noch ſowohl für das geiſtige als für das weltliche Haupt die ſchwierige Aufgabe hinzu, die Stellung des Mitregenten nicht unnöthig zu er- ſchweren durch äußerſte Verfolgung des eigenen Rechtes, Frieden

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/532>, abgerufen am 26.04.2024.