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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.

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vorstellen, wie er mit mir verfährt. Jndessen hat er mich noch nie geschlagen, weil ich ihm geschworen habe, gleich von ihm zu gehen, sobald er eine Hand an mich legt; auch mag er sich wohl vor mir fürchten. Keinen Freund hab' ich, dem ich meine Noth klagen kann, und meine Blutsverwandte gönnen mirs. Kurz, mein Leben ist das unglücklichste, was man sich nur denken kann. Jetzt schwieg sie stille.

Meine ganze Seele war erschüttert und mein Haß und meine Verachtung stieg in eben demselben Augenblick gegen dem Urheber ihrer Leiden so hoch, als das Mitleid gegen sie. Jch tröstete sie so gut ich konnte; ermahnte sie zur Geduld, als ihrer vornehmsten Pflicht, und ich kann sagen, daß ich dazumal noch keinen Funken von Anspruch empfand. Mitleid war jetzt die herrschende Empfindung meiner Seele und durch meinem Kopf fuhr eine Menge Projekte, die alle für ihr Wohl abzweckten. Aber --

Vielleicht, sagte ich zu ihr, warten noch künftig Freuden auf sie. Nein, war ihre Antwort, darauf warte ich nicht, denn stirbt er über lang oder kurz, so hinterläßt er mir Schulden, und wer wird sich heut zu Tage an eine arme Wittwe machen, die im Ruf steht, als habe sie sich in ihrer Ehe nicht gut vertragen? Stirbt er bald (und wie kann ich ihm ein langes Leben zutrauen, da sein Blutspeien und Husten täglich zunimmt) so


vorstellen, wie er mit mir verfaͤhrt. Jndessen hat er mich noch nie geschlagen, weil ich ihm geschworen habe, gleich von ihm zu gehen, sobald er eine Hand an mich legt; auch mag er sich wohl vor mir fuͤrchten. Keinen Freund hab' ich, dem ich meine Noth klagen kann, und meine Blutsverwandte goͤnnen mirs. Kurz, mein Leben ist das ungluͤcklichste, was man sich nur denken kann. Jetzt schwieg sie stille.

Meine ganze Seele war erschuͤttert und mein Haß und meine Verachtung stieg in eben demselben Augenblick gegen dem Urheber ihrer Leiden so hoch, als das Mitleid gegen sie. Jch troͤstete sie so gut ich konnte; ermahnte sie zur Geduld, als ihrer vornehmsten Pflicht, und ich kann sagen, daß ich dazumal noch keinen Funken von Anspruch empfand. Mitleid war jetzt die herrschende Empfindung meiner Seele und durch meinem Kopf fuhr eine Menge Projekte, die alle fuͤr ihr Wohl abzweckten. Aber —

Vielleicht, sagte ich zu ihr, warten noch kuͤnftig Freuden auf sie. Nein, war ihre Antwort, darauf warte ich nicht, denn stirbt er uͤber lang oder kurz, so hinterlaͤßt er mir Schulden, und wer wird sich heut zu Tage an eine arme Wittwe machen, die im Ruf steht, als habe sie sich in ihrer Ehe nicht gut vertragen? Stirbt er bald (und wie kann ich ihm ein langes Leben zutrauen, da sein Blutspeien und Husten taͤglich zunimmt) so

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[28/0030] vorstellen, wie er mit mir verfaͤhrt. Jndessen hat er mich noch nie geschlagen, weil ich ihm geschworen habe, gleich von ihm zu gehen, sobald er eine Hand an mich legt; auch mag er sich wohl vor mir fuͤrchten. Keinen Freund hab' ich, dem ich meine Noth klagen kann, und meine Blutsverwandte goͤnnen mirs. Kurz, mein Leben ist das ungluͤcklichste, was man sich nur denken kann. Jetzt schwieg sie stille. Meine ganze Seele war erschuͤttert und mein Haß und meine Verachtung stieg in eben demselben Augenblick gegen dem Urheber ihrer Leiden so hoch, als das Mitleid gegen sie. Jch troͤstete sie so gut ich konnte; ermahnte sie zur Geduld, als ihrer vornehmsten Pflicht, und ich kann sagen, daß ich dazumal noch keinen Funken von Anspruch empfand. Mitleid war jetzt die herrschende Empfindung meiner Seele und durch meinem Kopf fuhr eine Menge Projekte, die alle fuͤr ihr Wohl abzweckten. Aber — Vielleicht, sagte ich zu ihr, warten noch kuͤnftig Freuden auf sie. Nein, war ihre Antwort, darauf warte ich nicht, denn stirbt er uͤber lang oder kurz, so hinterlaͤßt er mir Schulden, und wer wird sich heut zu Tage an eine arme Wittwe machen, die im Ruf steht, als habe sie sich in ihrer Ehe nicht gut vertragen? Stirbt er bald (und wie kann ich ihm ein langes Leben zutrauen, da sein Blutspeien und Husten taͤglich zunimmt) so

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/30>, abgerufen am 26.04.2024.