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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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sache des Irrthums ist die, daß nicht nur, wenn das Em-
pfindbare (astheton) sich bewegt, sondern auch wenn die
Sinnesenergie (aisthesis) erregt wird, jegliches bewegt
erscheint; wenn diese nur so erregt wird, wie von dem
Empfindbaren. So scheint den Schiffenden das Ufer be-
wegt, wenn das Gesicht von einem Andern bewegt wird.

III. Kapitel.

Aus diesem erhellt, daß nicht allein im Wachen die Be-
wegungen, die von den äußeren und außer dem Körper ge-
legenen Objecten (aisthemata) entstehen, sondern auch
wenn der Zustand, den wir Schlaf nennen, eintritt, und
mehr, noch empfunden werden. Denn am Tage erlöschen sie,
wenn die Sinnesenergieen (aistheseis) und der Verstand
(dianoia) zugleich thätig sind, und sie verschwinden wie
ein kleines Feuer vor einem größern und mäßiger
Schmerz und Lust vor größeren. In der Ruhe taugt auch
das Kleine auf. Nachts, bei der Unthätigkeit und dem
Unvermögen der einzelnen Sinne (ai kata moria aisthe-
seis), da die Wärme von den äußeren den inneren Theilen
zuströmt, werden die Bewegungen nach dem Ursprunge
der Sinne verpflanzt, und wenn die Störung beschwichtigt
ist, offenbar. Man muß sich nicht anders jede solche Be-
wegung denken als wie die kleinen Wirbel, die in den Flüs-
sen verlaufen, oft auf gleiche Weise durch den Drang des
Wassers in anderen Formen sich auflösen. Deshalb hat
man nach der Mahlzeit und so lang man ganz jung ist
keine Träume. Denn viel Bewegung kömmt von der
Wärme der Nahrung. Wie nun im Flüßigen, wenn es
bewegt ist, dann kein Bild erscheint, dann zwar erscheint,
aber ganz verzogen und ein anderes scheint als es ist, bei
der Ruhe aber klar und rein, so auch verschwinden im

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ſache des Irrthums iſt die, daß nicht nur, wenn das Em-
pfindbare (ασϑητὸν) ſich bewegt, ſondern auch wenn die
Sinnesenergie (αἴσϑησις) erregt wird, jegliches bewegt
erſcheint; wenn dieſe nur ſo erregt wird, wie von dem
Empfindbaren. So ſcheint den Schiffenden das Ufer be-
wegt, wenn das Geſicht von einem Andern bewegt wird.

III. Kapitel.

Aus dieſem erhellt, daß nicht allein im Wachen die Be-
wegungen, die von den aͤußeren und außer dem Koͤrper ge-
legenen Objecten (αἰσϑηματα) entſtehen, ſondern auch
wenn der Zuſtand, den wir Schlaf nennen, eintritt, und
mehr, noch empfunden werden. Denn am Tage erloͤſchen ſie,
wenn die Sinnesenergieen (αἰσϑήσεις) und der Verſtand
(διανοια) zugleich thaͤtig ſind, und ſie verſchwinden wie
ein kleines Feuer vor einem groͤßern und maͤßiger
Schmerz und Luſt vor groͤßeren. In der Ruhe taugt auch
das Kleine auf. Nachts, bei der Unthaͤtigkeit und dem
Unvermoͤgen der einzelnen Sinne (αἱ κατὰ μόρια αἰςϑή-
σεις), da die Waͤrme von den aͤußeren den inneren Theilen
zuſtroͤmt, werden die Bewegungen nach dem Urſprunge
der Sinne verpflanzt, und wenn die Stoͤrung beſchwichtigt
iſt, offenbar. Man muß ſich nicht anders jede ſolche Be-
wegung denken als wie die kleinen Wirbel, die in den Fluͤſ-
ſen verlaufen, oft auf gleiche Weiſe durch den Drang des
Waſſers in anderen Formen ſich aufloͤſen. Deshalb hat
man nach der Mahlzeit und ſo lang man ganz jung iſt
keine Traͤume. Denn viel Bewegung koͤmmt von der
Waͤrme der Nahrung. Wie nun im Fluͤßigen, wenn es
bewegt iſt, dann kein Bild erſcheint, dann zwar erſcheint,
aber ganz verzogen und ein anderes ſcheint als es iſt, bei
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[113/0129] ſache des Irrthums iſt die, daß nicht nur, wenn das Em- pfindbare (ασϑητὸν) ſich bewegt, ſondern auch wenn die Sinnesenergie (αἴσϑησις) erregt wird, jegliches bewegt erſcheint; wenn dieſe nur ſo erregt wird, wie von dem Empfindbaren. So ſcheint den Schiffenden das Ufer be- wegt, wenn das Geſicht von einem Andern bewegt wird. III. Kapitel. Aus dieſem erhellt, daß nicht allein im Wachen die Be- wegungen, die von den aͤußeren und außer dem Koͤrper ge- legenen Objecten (αἰσϑηματα) entſtehen, ſondern auch wenn der Zuſtand, den wir Schlaf nennen, eintritt, und mehr, noch empfunden werden. Denn am Tage erloͤſchen ſie, wenn die Sinnesenergieen (αἰσϑήσεις) und der Verſtand (διανοια) zugleich thaͤtig ſind, und ſie verſchwinden wie ein kleines Feuer vor einem groͤßern und maͤßiger Schmerz und Luſt vor groͤßeren. In der Ruhe taugt auch das Kleine auf. Nachts, bei der Unthaͤtigkeit und dem Unvermoͤgen der einzelnen Sinne (αἱ κατὰ μόρια αἰςϑή- σεις), da die Waͤrme von den aͤußeren den inneren Theilen zuſtroͤmt, werden die Bewegungen nach dem Urſprunge der Sinne verpflanzt, und wenn die Stoͤrung beſchwichtigt iſt, offenbar. Man muß ſich nicht anders jede ſolche Be- wegung denken als wie die kleinen Wirbel, die in den Fluͤſ- ſen verlaufen, oft auf gleiche Weiſe durch den Drang des Waſſers in anderen Formen ſich aufloͤſen. Deshalb hat man nach der Mahlzeit und ſo lang man ganz jung iſt keine Traͤume. Denn viel Bewegung koͤmmt von der Waͤrme der Nahrung. Wie nun im Fluͤßigen, wenn es bewegt iſt, dann kein Bild erſcheint, dann zwar erſcheint, aber ganz verzogen und ein anderes ſcheint als es iſt, bei der Ruhe aber klar und rein, ſo auch verſchwinden im 8

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/129>, abgerufen am 26.04.2024.