dem Heiligthume anders als mit dem größten Zutrauen zu nahen, das fast den ganzen politischen Zustand des Landes geordnet, die Colonien geleitet, die Gottesfrie- den gestiftet, Lykurgs Gesetzordnung eingeführt u. s. w. Da hatte der Gott meistentheils nicht zu sagen, was geschehen würde, sondern was geschehen sollte, und verkündete oft ein nicht von ihm unabhängiges, sondern durch seine Sprüche selbst herbeigezogenes Schicksal. Insonderheit waren alle Dorier in einem gewissen Un- terthanenverhältniß zum Pythischen Tempel; und so lange dieser Stamm das Principat von Hellas hatte, galt die mesomphalos estia mit dem ewigen Feuer 1 zu Pytho in der That für das Prytaneion und den religiösen Mittelpunkt des ganzen Hellenenvolkes 2.
9.
Uebrigens wurde im alten Griechenlande keines- wegs alle Weissagung von Apollon abgeleitet, sondern nur solche, die aus einer Seelenerleuchtung und See- lenerhebung hervorgeht, welche das in hohem Sinn Ge- dachte auch äußerlich als nothwendig postulirt. Jener schwärmerische Seelenzustand, in den kühle Grotten mit ihren rinnenden Wässern, tönendem Wiederhall, rau- schendem Luftzuge das empfindsame Gemüth der Vor- welt versetzten, wurde dagegen von den Nymphen ab- geleitet, und die Bakiden, welche als ntmpholeptoi erscheinen, haben so wenig mit Apollon gemein, als die Seleniakoi, unter denen Musäos genannt wird 3. Von der Divination aus Beobachtung werden nur hie und da einzelne Zweige, mehr zufällig als nach
1 S. Hom. Hymn. 24. Aesch. Choeph. 1037. Curip. Jon 474. Plut. Numa 9.
2 vgl. Platon Rep. 4. p. 179, 7. Gesetze 6. p. 428, 12. Bekk.
3 Auch die Traumweissagung setzt Eurip. (Iphig. T. 1264.) der Weissagung Ap. entgegen, und deutet dar- auf den Kampf von Gäa und Phöbos.
dem Heiligthume anders als mit dem groͤßten Zutrauen zu nahen, das faſt den ganzen politiſchen Zuſtand des Landes geordnet, die Colonien geleitet, die Gottesfrie- den geſtiftet, Lykurgs Geſetzordnung eingefuͤhrt u. ſ. w. Da hatte der Gott meiſtentheils nicht zu ſagen, was geſchehen wuͤrde, ſondern was geſchehen ſollte, und verkuͤndete oft ein nicht von ihm unabhaͤngiges, ſondern durch ſeine Spruͤche ſelbſt herbeigezogenes Schickſal. Inſonderheit waren alle Dorier in einem gewiſſen Un- terthanenverhaͤltniß zum Pythiſchen Tempel; und ſo lange dieſer Stamm das Principat von Hellas hatte, galt die μεσόμϕαλος ἑστία mit dem ewigen Feuer 1 zu Pytho in der That fuͤr das Prytaneion und den religioͤſen Mittelpunkt des ganzen Hellenenvolkes 2.
9.
Uebrigens wurde im alten Griechenlande keines- wegs alle Weiſſagung von Apollon abgeleitet, ſondern nur ſolche, die aus einer Seelenerleuchtung und See- lenerhebung hervorgeht, welche das in hohem Sinn Ge- dachte auch aͤußerlich als nothwendig poſtulirt. Jener ſchwaͤrmeriſche Seelenzuſtand, in den kuͤhle Grotten mit ihren rinnenden Waͤſſern, toͤnendem Wiederhall, rau- ſchendem Luftzuge das empfindſame Gemuͤth der Vor- welt verſetzten, wurde dagegen von den Nymphen ab- geleitet, und die Bakiden, welche als ντμϕόληπτοι erſcheinen, haben ſo wenig mit Apollon gemein, als die Σεληνιακοί, unter denen Muſaͤos genannt wird 3. Von der Divination aus Beobachtung werden nur hie und da einzelne Zweige, mehr zufaͤllig als nach
1 S. Hom. Hymn. 24. Aeſch. Choeph. 1037. Curip. Jon 474. Plut. Numa 9.
2 vgl. Platon Rep. 4. p. 179, 7. Geſetze 6. p. 428, 12. Bekk.
3 Auch die Traumweiſſagung ſetzt Eurip. (Iphig. T. 1264.) der Weiſſagung Ap. entgegen, und deutet dar- auf den Kampf von Gaͤa und Phoͤbos.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0370"n="340"/>
dem Heiligthume anders als mit dem groͤßten Zutrauen<lb/>
zu nahen, das faſt den ganzen politiſchen Zuſtand des<lb/>
Landes geordnet, die Colonien geleitet, die Gottesfrie-<lb/>
den geſtiftet, Lykurgs Geſetzordnung eingefuͤhrt u. ſ. w.<lb/>
Da hatte der Gott meiſtentheils nicht zu ſagen, was<lb/>
geſchehen wuͤrde, ſondern was geſchehen ſollte, und<lb/>
verkuͤndete oft ein nicht von ihm unabhaͤngiges, ſondern<lb/>
durch ſeine Spruͤche ſelbſt herbeigezogenes Schickſal.<lb/>
Inſonderheit waren alle Dorier in einem gewiſſen Un-<lb/>
terthanenverhaͤltniß zum Pythiſchen Tempel; und ſo<lb/>
lange dieſer Stamm das Principat von Hellas hatte,<lb/>
galt die μεσόμϕαλοςἑστία mit dem ewigen Feuer <noteplace="foot"n="1">S. Hom. Hymn. 24. Aeſch. Choeph. 1037. Curip. Jon<lb/>
474. Plut. Numa 9.</note><lb/>
zu Pytho in der That fuͤr das Prytaneion und den<lb/>
religioͤſen Mittelpunkt des ganzen Hellenenvolkes <noteplace="foot"n="2">vgl. Platon Rep. 4. <hirendition="#aq">p.</hi> 179, 7. Geſetze<lb/>
6. <hirendition="#aq">p.</hi> 428, 12. Bekk.</note>.</p></div><lb/><divn="4"><head>9.</head><lb/><p>Uebrigens wurde im alten Griechenlande keines-<lb/>
wegs alle Weiſſagung von Apollon abgeleitet, ſondern<lb/>
nur ſolche, die aus einer Seelenerleuchtung und See-<lb/>
lenerhebung hervorgeht, welche das in hohem Sinn Ge-<lb/>
dachte auch aͤußerlich als nothwendig poſtulirt. Jener<lb/>ſchwaͤrmeriſche Seelenzuſtand, in den kuͤhle Grotten<lb/>
mit ihren rinnenden Waͤſſern, toͤnendem Wiederhall, rau-<lb/>ſchendem Luftzuge das empfindſame Gemuͤth der Vor-<lb/>
welt verſetzten, wurde dagegen von den Nymphen ab-<lb/>
geleitet, und die Bakiden, welche als ντμϕόληπτοι<lb/>
erſcheinen, haben ſo wenig mit Apollon gemein, als<lb/>
die Σεληνιακοί, unter denen Muſaͤos genannt wird <noteplace="foot"n="3">Auch die Traumweiſſagung ſetzt Eurip.<lb/>
(Iphig. T. 1264.) der Weiſſagung Ap. entgegen, und deutet dar-<lb/>
auf den Kampf von Gaͤa und Phoͤbos.</note>.<lb/>
Von der Divination aus Beobachtung werden nur<lb/>
hie und da einzelne Zweige, mehr zufaͤllig als nach<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[340/0370]
dem Heiligthume anders als mit dem groͤßten Zutrauen
zu nahen, das faſt den ganzen politiſchen Zuſtand des
Landes geordnet, die Colonien geleitet, die Gottesfrie-
den geſtiftet, Lykurgs Geſetzordnung eingefuͤhrt u. ſ. w.
Da hatte der Gott meiſtentheils nicht zu ſagen, was
geſchehen wuͤrde, ſondern was geſchehen ſollte, und
verkuͤndete oft ein nicht von ihm unabhaͤngiges, ſondern
durch ſeine Spruͤche ſelbſt herbeigezogenes Schickſal.
Inſonderheit waren alle Dorier in einem gewiſſen Un-
terthanenverhaͤltniß zum Pythiſchen Tempel; und ſo
lange dieſer Stamm das Principat von Hellas hatte,
galt die μεσόμϕαλος ἑστία mit dem ewigen Feuer 1
zu Pytho in der That fuͤr das Prytaneion und den
religioͤſen Mittelpunkt des ganzen Hellenenvolkes 2.
9.
Uebrigens wurde im alten Griechenlande keines-
wegs alle Weiſſagung von Apollon abgeleitet, ſondern
nur ſolche, die aus einer Seelenerleuchtung und See-
lenerhebung hervorgeht, welche das in hohem Sinn Ge-
dachte auch aͤußerlich als nothwendig poſtulirt. Jener
ſchwaͤrmeriſche Seelenzuſtand, in den kuͤhle Grotten
mit ihren rinnenden Waͤſſern, toͤnendem Wiederhall, rau-
ſchendem Luftzuge das empfindſame Gemuͤth der Vor-
welt verſetzten, wurde dagegen von den Nymphen ab-
geleitet, und die Bakiden, welche als ντμϕόληπτοι
erſcheinen, haben ſo wenig mit Apollon gemein, als
die Σεληνιακοί, unter denen Muſaͤos genannt wird 3.
Von der Divination aus Beobachtung werden nur
hie und da einzelne Zweige, mehr zufaͤllig als nach
1 S. Hom. Hymn. 24. Aeſch. Choeph. 1037. Curip. Jon
474. Plut. Numa 9.
2 vgl. Platon Rep. 4. p. 179, 7. Geſetze
6. p. 428, 12. Bekk.
3 Auch die Traumweiſſagung ſetzt Eurip.
(Iphig. T. 1264.) der Weiſſagung Ap. entgegen, und deutet dar-
auf den Kampf von Gaͤa und Phoͤbos.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/370>, abgerufen am 05.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.