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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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in die größte Nähe des Geliebten brachten, und ihm
jedes Zeichen der Zuneigung erlaubten praeter stu-
prum
1; denn wenn auch allerdings diese Nähe in
der Zeit des Sittenverderbs höchst gefährlich sein moch-
te: so beweist sie doch für die ältern Zeiten das Ge-
gentheil. Daß dieses stuprum selbst die Lakedämonier
sehr hart straften, mit Landesverweisung oder Tod,
wissen wir sonst 2.

9.

So kommen wir zu dem Resultate, daß dies
eigenthümliche Verhältniß sich bei den nordhellenischen
Völkerschaften durchaus unbefangen und edel gebildet
hatte, ehe Knabenschänderei, wahrscheinlich von Lydien
her, in Griechenland bekannt geworden war. Und nur
so, wenn wir ein Doppeltes, von Grund aus Ver-
schiednes, annehmen, welches in der Griechischen Kna-
benliebe zusammengeflossen, ist überhaupt die gesammte
Ansicht und Betrachtungsweise derselben auch in der
Zeit der Attischen Bildung erklärlich, in der immer
ein reines und edles Element mit einem unreinen und
niedern auf seltsame Weise vereinigt erscheint. Merk-
würdig ist es, daß die alten Achäer, deren Leben wir
in Homers Gesängen erblicken, offenbar dies Verhält-
niß nicht kannten, da Achilleus und Patroklos Freund-

1 De rep. 4, 4. p. 279. Mal.
2 Aelian V. G. 3,
12. Wegen dieser cautio heißt der Laked, nomos bei Platon Symp.
p. 182. poikilos. Die Reinheit der Laked. Knabenliebe bezeugt der
beste Kenner Dorischer Sitten, Xenoph. Staat 2, 13. Symp. 8,
35. Platon hat indeß auch von ihr üble Begriffe, Ges. 1, 636. 8,
836. Die Kretische ist mehr anrüchig geworden als die Lakonische,
Plut. de educ. 14. Beide rühmt als gleich unschuldig Mar. Tyr.
diss. 10. p. 113. An den zweideutigen Urtheilen sind sicher fast
ganz die Attischen Komiker Schuld. Eupolis bei Athen 1, 17 d.
Hesych u. aa. Lexikogr. kusolakon, lakonizein. vgl. Suid. Apo-
stol. 11, 73. Lakonikon tropon perainein.

in die groͤßte Naͤhe des Geliebten brachten, und ihm
jedes Zeichen der Zuneigung erlaubten praeter stu-
prum
1; denn wenn auch allerdings dieſe Naͤhe in
der Zeit des Sittenverderbs hoͤchſt gefaͤhrlich ſein moch-
te: ſo beweist ſie doch fuͤr die aͤltern Zeiten das Ge-
gentheil. Daß dieſes stuprum ſelbſt die Lakedaͤmonier
ſehr hart ſtraften, mit Landesverweiſung oder Tod,
wiſſen wir ſonſt 2.

9.

So kommen wir zu dem Reſultate, daß dies
eigenthuͤmliche Verhaͤltniß ſich bei den nordhelleniſchen
Voͤlkerſchaften durchaus unbefangen und edel gebildet
hatte, ehe Knabenſchaͤnderei, wahrſcheinlich von Lydien
her, in Griechenland bekannt geworden war. Und nur
ſo, wenn wir ein Doppeltes, von Grund aus Ver-
ſchiednes, annehmen, welches in der Griechiſchen Kna-
benliebe zuſammengefloſſen, iſt uͤberhaupt die geſammte
Anſicht und Betrachtungsweiſe derſelben auch in der
Zeit der Attiſchen Bildung erklaͤrlich, in der immer
ein reines und edles Element mit einem unreinen und
niedern auf ſeltſame Weiſe vereinigt erſcheint. Merk-
wuͤrdig iſt es, daß die alten Achaͤer, deren Leben wir
in Homers Geſaͤngen erblicken, offenbar dies Verhaͤlt-
niß nicht kannten, da Achilleus und Patroklos Freund-

1 De rep. 4, 4. p. 279. Mal.
2 Aelian V. G. 3,
12. Wegen dieſer cautio heißt der Λακεδ, νόμος bei Platon Symp.
p. 182. ποικίλος. Die Reinheit der Laked. Knabenliebe bezeugt der
beſte Kenner Doriſcher Sitten, Xenoph. Staat 2, 13. Symp. 8,
35. Platon hat indeß auch von ihr uͤble Begriffe, Geſ. 1, 636. 8,
836. Die Kretiſche iſt mehr anruͤchig geworden als die Lakoniſche,
Plut. de educ. 14. Beide ruͤhmt als gleich unſchuldig Mar. Tyr.
diss. 10. p. 113. An den zweideutigen Urtheilen ſind ſicher faſt
ganz die Attiſchen Komiker Schuld. Eupolis bei Athen 1, 17 d.
Heſych u. aa. Lexikogr. κυσολάκων, λακωνίζειν. vgl. Suid. Apo-
ſtol. 11, 73. Λακωνικὸν τϱόπον πεϱαίνειν.
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[296/0302] in die groͤßte Naͤhe des Geliebten brachten, und ihm jedes Zeichen der Zuneigung erlaubten praeter stu- prum 1; denn wenn auch allerdings dieſe Naͤhe in der Zeit des Sittenverderbs hoͤchſt gefaͤhrlich ſein moch- te: ſo beweist ſie doch fuͤr die aͤltern Zeiten das Ge- gentheil. Daß dieſes stuprum ſelbſt die Lakedaͤmonier ſehr hart ſtraften, mit Landesverweiſung oder Tod, wiſſen wir ſonſt 2. 9. So kommen wir zu dem Reſultate, daß dies eigenthuͤmliche Verhaͤltniß ſich bei den nordhelleniſchen Voͤlkerſchaften durchaus unbefangen und edel gebildet hatte, ehe Knabenſchaͤnderei, wahrſcheinlich von Lydien her, in Griechenland bekannt geworden war. Und nur ſo, wenn wir ein Doppeltes, von Grund aus Ver- ſchiednes, annehmen, welches in der Griechiſchen Kna- benliebe zuſammengefloſſen, iſt uͤberhaupt die geſammte Anſicht und Betrachtungsweiſe derſelben auch in der Zeit der Attiſchen Bildung erklaͤrlich, in der immer ein reines und edles Element mit einem unreinen und niedern auf ſeltſame Weiſe vereinigt erſcheint. Merk- wuͤrdig iſt es, daß die alten Achaͤer, deren Leben wir in Homers Geſaͤngen erblicken, offenbar dies Verhaͤlt- niß nicht kannten, da Achilleus und Patroklos Freund- 1 De rep. 4, 4. p. 279. Mal. 2 Aelian V. G. 3, 12. Wegen dieſer cautio heißt der Λακεδ, νόμος bei Platon Symp. p. 182. ποικίλος. Die Reinheit der Laked. Knabenliebe bezeugt der beſte Kenner Doriſcher Sitten, Xenoph. Staat 2, 13. Symp. 8, 35. Platon hat indeß auch von ihr uͤble Begriffe, Geſ. 1, 636. 8, 836. Die Kretiſche iſt mehr anruͤchig geworden als die Lakoniſche, Plut. de educ. 14. Beide ruͤhmt als gleich unſchuldig Mar. Tyr. diss. 10. p. 113. An den zweideutigen Urtheilen ſind ſicher faſt ganz die Attiſchen Komiker Schuld. Eupolis bei Athen 1, 17 d. Heſych u. aa. Lexikogr. κυσολάκων, λακωνίζειν. vgl. Suid. Apo- ſtol. 11, 73. Λακωνικὸν τϱόπον πεϱαίνειν.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/302>, abgerufen am 26.04.2024.