Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

wenn nun nach Aristoteles 1 einige Peloponnesier mit
den Athenern um die Erfindung der Tragödie eifer-
ten 2: so werden wir der ersten Partei nicht darum
Unrecht geben, weil ihr Lied, von dem der andern
übertönt, so zeitig verstummte. -- Nun fragt es sich
aber, ob diese Sikyonische Tragödie das gewöhnlich so
genannte Drama, oder blos eine Gattung (dithyram-
bischer) Lyrik gewesen, deren Existenz vor einigen Jah-
ren Böckh aus Böotischen Inschriften und andern
Spuren ans Licht gebracht 3. Ich meine mit dem
genannten Alterthumsforscher: das letztre -- weil nur
dann die Nachrichten der Athener über den Ursprung
und Bildungsgang ihrer eignen Tragödie sich rechtfer-
tigen lassen, und weil bestimmt berichtet wird, daß
die gesammte ältre Tragödie blos aus Chören bestan-
den habe 4. Nur möchte ich deswegen diesen Bakchi-
schen Festliedern nicht das mimische Element abstreiten,
was im Wesen des Cultus von Anfang an lag; die
Lebhaftigkeit des Gefühls forderte Leibhaftigkeit der
Darstellung; und schon Arion, der auch als Erfinder
der tragischen Weise (tragikos tropos) genannt wird,
soll dem Chore Satyrn zugesellt haben 5. -- Arion,
obgleich ein Methymnäer und wahrscheinlich aus Ter-
panders Schule, lebte und dichtete doch meist, wie
sein eben genannter Vorgänger, im Peloponnes und
unter Doriern. In Korinth war es, wo er unter Pe-

1 Poet. 3. und Hermann zur Stelle p. 104. Wilh. Schnei-
der's Einwürfe de origg. trag. Gr. p. 21 sq. lassen sich wohl
nach der oben aufgestellten Ansicht beseitigen.
2 Specieller
von den Sikyoniern, daß sie die Trag. erfunden, Themist. Or. 19.
p.
487.
3 Staatshaush. 2. S. 362.
4 Besonders
Aristokles bei Athen 14, 630 c.
5 Suid. s. v. Arion.

wenn nun nach Ariſtoteles 1 einige Peloponneſier mit
den Athenern um die Erfindung der Tragoͤdie eifer-
ten 2: ſo werden wir der erſten Partei nicht darum
Unrecht geben, weil ihr Lied, von dem der andern
uͤbertoͤnt, ſo zeitig verſtummte. — Nun fragt es ſich
aber, ob dieſe Sikyoniſche Tragoͤdie das gewoͤhnlich ſo
genannte Drama, oder blos eine Gattung (dithyram-
biſcher) Lyrik geweſen, deren Exiſtenz vor einigen Jah-
ren Boͤckh aus Boͤotiſchen Inſchriften und andern
Spuren ans Licht gebracht 3. Ich meine mit dem
genannten Alterthumsforſcher: das letztre — weil nur
dann die Nachrichten der Athener uͤber den Urſprung
und Bildungsgang ihrer eignen Tragoͤdie ſich rechtfer-
tigen laſſen, und weil beſtimmt berichtet wird, daß
die geſammte aͤltre Tragoͤdie blos aus Choͤren beſtan-
den habe 4. Nur moͤchte ich deswegen dieſen Bakchi-
ſchen Feſtliedern nicht das mimiſche Element abſtreiten,
was im Weſen des Cultus von Anfang an lag; die
Lebhaftigkeit des Gefuͤhls forderte Leibhaftigkeit der
Darſtellung; und ſchon Arion, der auch als Erfinder
der tragiſchen Weiſe (τραγικὸς τρόπος) genannt wird,
ſoll dem Chore Satyrn zugeſellt haben 5. — Arion,
obgleich ein Methymnaͤer und wahrſcheinlich aus Ter-
panders Schule, lebte und dichtete doch meiſt, wie
ſein eben genannter Vorgaͤnger, im Peloponnes und
unter Doriern. In Korinth war es, wo er unter Pe-

1 Poet. 3. und Hermann zur Stelle p. 104. Wilh. Schnei-
der’s Einwuͤrfe de origg. trag. Gr. p. 21 sq. laſſen ſich wohl
nach der oben aufgeſtellten Anſicht beſeitigen.
2 Specieller
von den Sikyoniern, daß ſie die Trag. erfunden, Themiſt. Or. 19.
p.
487.
3 Staatshaush. 2. S. 362.
4 Beſonders
Ariſtokles bei Athen 14, 630 c.
5 Suid. s. v. Ἀϱίων.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0374" n="368"/>
wenn nun nach Ari&#x017F;toteles <note place="foot" n="1">Poet. 3. und Hermann zur Stelle <hi rendition="#aq">p.</hi> 104. Wilh. Schnei-<lb/>
der&#x2019;s Einwu&#x0364;rfe <hi rendition="#aq">de origg. trag. Gr. p. 21 sq.</hi> la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich wohl<lb/>
nach der oben aufge&#x017F;tellten An&#x017F;icht be&#x017F;eitigen.</note> einige Peloponne&#x017F;ier mit<lb/>
den Athenern um die Erfindung der Trago&#x0364;die eifer-<lb/>
ten <note place="foot" n="2">Specieller<lb/>
von den Sikyoniern, daß &#x017F;ie die Trag. erfunden, Themi&#x017F;t. <hi rendition="#aq">Or. 19.<lb/>
p.</hi> 487.</note>: &#x017F;o werden wir der er&#x017F;ten Partei nicht darum<lb/>
Unrecht geben, weil ihr Lied, von dem der andern<lb/>
u&#x0364;berto&#x0364;nt, &#x017F;o zeitig ver&#x017F;tummte. &#x2014; Nun fragt es &#x017F;ich<lb/>
aber, ob die&#x017F;e Sikyoni&#x017F;che Trago&#x0364;die das gewo&#x0364;hnlich &#x017F;o<lb/>
genannte <hi rendition="#g">Drama</hi>, oder blos eine Gattung (dithyram-<lb/>
bi&#x017F;cher) Lyrik gewe&#x017F;en, deren Exi&#x017F;tenz vor einigen Jah-<lb/>
ren Bo&#x0364;ckh aus Bo&#x0364;oti&#x017F;chen In&#x017F;chriften und andern<lb/>
Spuren ans Licht gebracht <note place="foot" n="3">Staatshaush. 2. S. 362.</note>. Ich meine mit dem<lb/>
genannten Alterthumsfor&#x017F;cher: das letztre &#x2014; weil nur<lb/>
dann die Nachrichten der Athener u&#x0364;ber den Ur&#x017F;prung<lb/>
und Bildungsgang ihrer eignen Trago&#x0364;die &#x017F;ich rechtfer-<lb/>
tigen la&#x017F;&#x017F;en, und weil be&#x017F;timmt berichtet wird, daß<lb/>
die ge&#x017F;ammte a&#x0364;ltre Trago&#x0364;die blos aus Cho&#x0364;ren be&#x017F;tan-<lb/>
den habe <note place="foot" n="4">Be&#x017F;onders<lb/>
Ari&#x017F;tokles bei Athen 14, 630 <hi rendition="#aq">c.</hi></note>. Nur mo&#x0364;chte ich deswegen die&#x017F;en Bakchi-<lb/>
&#x017F;chen Fe&#x017F;tliedern nicht das mimi&#x017F;che Element ab&#x017F;treiten,<lb/>
was im We&#x017F;en des Cultus von Anfang an lag; die<lb/>
Lebhaftigkeit des Gefu&#x0364;hls forderte Leibhaftigkeit der<lb/>
Dar&#x017F;tellung; und &#x017F;chon <hi rendition="#g">Arion</hi>, der auch als Erfinder<lb/>
der tragi&#x017F;chen Wei&#x017F;e (&#x03C4;&#x03C1;&#x03B1;&#x03B3;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x03C1;&#x03CC;&#x03C0;&#x03BF;&#x03C2;) genannt wird,<lb/>
&#x017F;oll dem Chore Satyrn zuge&#x017F;ellt haben <note place="foot" n="5">Suid. <hi rendition="#aq">s. v.</hi> &#x1F08;&#x03F1;&#x03AF;&#x03C9;&#x03BD;.</note>. &#x2014; Arion,<lb/>
obgleich ein Methymna&#x0364;er und wahr&#x017F;cheinlich aus Ter-<lb/>
panders Schule, lebte und dichtete doch mei&#x017F;t, wie<lb/>
&#x017F;ein eben genannter Vorga&#x0364;nger, im Peloponnes und<lb/>
unter Doriern. In Korinth war es, wo er unter Pe-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[368/0374] wenn nun nach Ariſtoteles 1 einige Peloponneſier mit den Athenern um die Erfindung der Tragoͤdie eifer- ten 2: ſo werden wir der erſten Partei nicht darum Unrecht geben, weil ihr Lied, von dem der andern uͤbertoͤnt, ſo zeitig verſtummte. — Nun fragt es ſich aber, ob dieſe Sikyoniſche Tragoͤdie das gewoͤhnlich ſo genannte Drama, oder blos eine Gattung (dithyram- biſcher) Lyrik geweſen, deren Exiſtenz vor einigen Jah- ren Boͤckh aus Boͤotiſchen Inſchriften und andern Spuren ans Licht gebracht 3. Ich meine mit dem genannten Alterthumsforſcher: das letztre — weil nur dann die Nachrichten der Athener uͤber den Urſprung und Bildungsgang ihrer eignen Tragoͤdie ſich rechtfer- tigen laſſen, und weil beſtimmt berichtet wird, daß die geſammte aͤltre Tragoͤdie blos aus Choͤren beſtan- den habe 4. Nur moͤchte ich deswegen dieſen Bakchi- ſchen Feſtliedern nicht das mimiſche Element abſtreiten, was im Weſen des Cultus von Anfang an lag; die Lebhaftigkeit des Gefuͤhls forderte Leibhaftigkeit der Darſtellung; und ſchon Arion, der auch als Erfinder der tragiſchen Weiſe (τραγικὸς τρόπος) genannt wird, ſoll dem Chore Satyrn zugeſellt haben 5. — Arion, obgleich ein Methymnaͤer und wahrſcheinlich aus Ter- panders Schule, lebte und dichtete doch meiſt, wie ſein eben genannter Vorgaͤnger, im Peloponnes und unter Doriern. In Korinth war es, wo er unter Pe- 1 Poet. 3. und Hermann zur Stelle p. 104. Wilh. Schnei- der’s Einwuͤrfe de origg. trag. Gr. p. 21 sq. laſſen ſich wohl nach der oben aufgeſtellten Anſicht beſeitigen. 2 Specieller von den Sikyoniern, daß ſie die Trag. erfunden, Themiſt. Or. 19. p. 487. 3 Staatshaush. 2. S. 362. 4 Beſonders Ariſtokles bei Athen 14, 630 c. 5 Suid. s. v. Ἀϱίων.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/374
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/374>, abgerufen am 26.04.2024.