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Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.

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ein jeder begreift die Richtigkeit, nur das hausbackene
Gretchen nicht. Aber Gretchen ist nicht nur haus¬
backen, sie ist auch ungebildet, denn sie glaubt an einen
Herrn und Heiland, und sagt, sie könne keine Stunde
ohne ihn leben. Armes Gretchen! Klärchen hat den
Heiland nicht nöthig, sie wüßte wahrlich in aller Welt
nicht, wozu sie ihn nöthig hätte. Die Tante Rieke
sagt zwar, er müßte uns von unserer Sünde erlösen,
und wir gingen ohne ihn in Nacht, in Wüsten, in
Unverstand und wie sie weiter sagt; aber das konnte
Klärchen nicht fassen, sie wußte nichts von Sünde, von
Nacht und Dunkelheit und gar von Unverstand. Eine
Christin wollte sie auch sein; sie hatte, was nöthig war,
gelernt, aber wozu, das sah sie noch nicht ein, es hatte
sich noch keine Gelegenheit gefunden, um Gebrauch da¬
von zu machen. Nur vom Einfachsten und Verständ¬
lichsten zu reden, von den zehn Geboten, wozu war
das siebente für sie da: "Du sollst nicht stehlen?"
Es fiel ihr gar nicht ein. Oder: "Du sollst nicht
andere Götter haben neben mir?" Sie war doch keine
Heidin, die an Jupiter und Mars glaubte. Oder:
"Du sollst Vater und Mutter ehren?" Ei, sie that
mehr als ihre Pflicht: Tag und Nacht so zu sagen
quälte sie sich, um ihre Mutter zu ernähren. Nein, sie
hatte gar Nichts an sich auszusetzen; um sie herum
war Alles licht und helle und sie brauchte keinen Er¬
löser. An den lieben Gott glaubte sie wohl, sie ver¬
ließ sich zwar nicht auf ihn, als ob er ihr Schicksal
leiten und lenken könne, -- das verlangte sie gar nicht,
sie wollte das allein thun; sie war schön und jung
und klug und gebildet, ihr Glück verstand sich von

ein jeder begreift die Richtigkeit, nur das hausbackene
Gretchen nicht. Aber Gretchen iſt nicht nur haus¬
backen, ſie iſt auch ungebildet, denn ſie glaubt an einen
Herrn und Heiland, und ſagt, ſie könne keine Stunde
ohne ihn leben. Armes Gretchen! Klärchen hat den
Heiland nicht nöthig, ſie wüßte wahrlich in aller Welt
nicht, wozu ſie ihn nöthig hätte. Die Tante Rieke
ſagt zwar, er müßte uns von unſerer Sünde erlöſen,
und wir gingen ohne ihn in Nacht, in Wüſten, in
Unverſtand und wie ſie weiter ſagt; aber das konnte
Klärchen nicht faſſen, ſie wußte nichts von Sünde, von
Nacht und Dunkelheit und gar von Unverſtand. Eine
Chriſtin wollte ſie auch ſein; ſie hatte, was nöthig war,
gelernt, aber wozu, das ſah ſie noch nicht ein, es hatte
ſich noch keine Gelegenheit gefunden, um Gebrauch da¬
von zu machen. Nur vom Einfachſten und Verſtänd¬
lichſten zu reden, von den zehn Geboten, wozu war
das ſiebente für ſie da: „Du ſollſt nicht ſtehlen?“
Es fiel ihr gar nicht ein. Oder: „Du ſollſt nicht
andere Götter haben neben mir?“ Sie war doch keine
Heidin, die an Jupiter und Mars glaubte. Oder:
„Du ſollſt Vater und Mutter ehren?“ Ei, ſie that
mehr als ihre Pflicht: Tag und Nacht ſo zu ſagen
quälte ſie ſich, um ihre Mutter zu ernähren. Nein, ſie
hatte gar Nichts an ſich auszuſetzen; um ſie herum
war Alles licht und helle und ſie brauchte keinen Er¬
löſer. An den lieben Gott glaubte ſie wohl, ſie ver¬
ließ ſich zwar nicht auf ihn, als ob er ihr Schickſal
leiten und lenken könne, — das verlangte ſie gar nicht,
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[11/0017] ein jeder begreift die Richtigkeit, nur das hausbackene Gretchen nicht. Aber Gretchen iſt nicht nur haus¬ backen, ſie iſt auch ungebildet, denn ſie glaubt an einen Herrn und Heiland, und ſagt, ſie könne keine Stunde ohne ihn leben. Armes Gretchen! Klärchen hat den Heiland nicht nöthig, ſie wüßte wahrlich in aller Welt nicht, wozu ſie ihn nöthig hätte. Die Tante Rieke ſagt zwar, er müßte uns von unſerer Sünde erlöſen, und wir gingen ohne ihn in Nacht, in Wüſten, in Unverſtand und wie ſie weiter ſagt; aber das konnte Klärchen nicht faſſen, ſie wußte nichts von Sünde, von Nacht und Dunkelheit und gar von Unverſtand. Eine Chriſtin wollte ſie auch ſein; ſie hatte, was nöthig war, gelernt, aber wozu, das ſah ſie noch nicht ein, es hatte ſich noch keine Gelegenheit gefunden, um Gebrauch da¬ von zu machen. Nur vom Einfachſten und Verſtänd¬ lichſten zu reden, von den zehn Geboten, wozu war das ſiebente für ſie da: „Du ſollſt nicht ſtehlen?“ Es fiel ihr gar nicht ein. Oder: „Du ſollſt nicht andere Götter haben neben mir?“ Sie war doch keine Heidin, die an Jupiter und Mars glaubte. Oder: „Du ſollſt Vater und Mutter ehren?“ Ei, ſie that mehr als ihre Pflicht: Tag und Nacht ſo zu ſagen quälte ſie ſich, um ihre Mutter zu ernähren. Nein, ſie hatte gar Nichts an ſich auszuſetzen; um ſie herum war Alles licht und helle und ſie brauchte keinen Er¬ löſer. An den lieben Gott glaubte ſie wohl, ſie ver¬ ließ ſich zwar nicht auf ihn, als ob er ihr Schickſal leiten und lenken könne, — das verlangte ſie gar nicht, ſie wollte das allein thun; ſie war ſchön und jung und klug und gebildet, ihr Glück verſtand ſich von

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Zitationshilfe: Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/17>, abgerufen am 26.04.2024.