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Allgemeine Zeitung, Nr. 45, 7. November 1914.

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[Spaltenumbruch] aufzuhetzen. Wenn die Redensart vom "kranken Mann" am Bos-
porus allgemein wurde, so trägt die Hauptschuld an diesem Siech-
tum zweifellos Petersburg, das bald seine Armeen gegen Rumelien
vorrücken ließ, um seinen byzantinischen Machtstämmen gemäß das
griechische Kreuz auf der Hagia Sophia aufzurichten, in den Frie-
denspausen aber unaufhörlich und mit allen Schikanen an der inneren
Aufweichung des osmanischen Reichs arbeitete. Keine besseren
Freunde der Türkei sind England und Frankreich gewesen. Sie
haben wohl einst im Krimkrieg, um den zarischen Koloß niederzu-
halten, mit der Türkei Schulter an Schulter gefochten, als Preis
der Hilfe sich dann aber die Kapitulationen und andere Rechte
ausbedungen, die ebenfalls darauf hinzielten, jeden Gesundungs-
prozeß des kranken Mann unmöglich zu machen. Mit dem Be-
ginn der Ententenverbrüderung zwischen London und Paris nach
Faschoda setzte dann überdies die Politik der systematischen Ab-
bröckelung der Außengebiete der Türkei und ihrer Schutzstaaten als
Vormacht des Islam ein: Aegypten und der Sudan wurden von
England beschlagnahmt, Arabien rings von britischen Vorposten
eingekreist, auf den Maghreb die Faust von Frankreich gelegt,
Persien, Afghanistan zwischen die Mühlsteine des berüchtigten
mittelasiatischen Vertrags Londons und Petersburg gequetscht. Die
Hohe Pforte hat nicht ihre Selbstverfügungsrechte, die von ganz
anderer Seite bedroht werden, durch die Anlehnung an Deutsch-
land verloren, will sie vielmehr eben durch diese Kampfgenossenschaft
in vollem Umfang wiedergewinnen, und dasselbe gilt von der gan-
zen Welt des Islams, der niemals deutlicher als heute empfunden
hat, daß das Los seiner Zukunft in derselben Urne geschüttelt wird,
in der über der deutschen Nationen Schicksal die Würfel fallen.
Solche politische Tatsachengewichte sind es, welche der Gesamtheit
der Müslims heute die Geschlossenheit und die enheitliche Bewegung
auf ein klar erkanntes Ziel hin gaben, die sie als religiöse Kirchen-
gemeinschaft nicht besitzt, und die Stoßkraft dieser elementaren
Aufflutung des Meeres der mohammedanischen Massen wird man
in allen Ententen-Kriegslagern sehr bald deutlich verspüren.

Einstweilen freilich wendet sich das nächstliegende Interesse
nicht der Frage zu, in welcher Weise und unter welchen Bedingun-
gen die Türkei diese Heere der Glaubensgenossen ihren Zweck dienst-
bar machen und sie in Bewegung setzen kann, sondern dem Pro-
blem, wie sich die Balkanstaaten, mit denen sie noch vor wenigen
Jahren in erbittertem Kampf lag, zu der Parteinahme der Hohen
Pforte gegen den Ententenbund stellen werden. Der Gegner, der
damals als Genosse des von Iswolski gestisteten Balkanbundes am
schärfsten dem osmanischen Reich zusetzte, wird zweifellos die Waffen
diesmal nicht gegen Konstantinopel erheben; die Wahrscheinlichkeit
spricht vielmehr dafür, daß sich Bulgarien eher trotz allen
Petersburger Lockungen mit dem allslawischen Zuckerbrot und trotz
allen Drohungen mit der allrussischen Knute dem Kampf gegen den
zarischen Koloß anschließen wird. Man hat eben in Sofia damals
nur zu deutlich empfunden, was die Petersburger Freundschaft
bedeutet: für die blutige Arbeit der Zerschmetterung der türkischen
Armeen war man gut genug, als das bulgarische Heer sich Kon-
stantinopel näherte, runzelten die Politiker an der Newa die Stirn,
und als es galt, die Kriegsbeute zu teilen, wurde das Land rück-
sichtslos dem serbischen Machthunger preisgegeben. Als König
Karol starb, war man in Deutschland nicht ohne Sorge, daß der
Tod dieses Schildhalters der "deutschen Wacht an der unteren
Donau", der selbst schon Mühe genug gehabt hatte, seine dreibund-
freundliche Politik gegen die französelnden Parteien Rumäniens
zu verteidigen, einen vollständigen Umschwung in der Haltung
Bukarests herbeiführen würde; auch diese Befürchtung scheint sich
als grundlos zu erweisen. Je mehr es gilt, nicht in schönredner-
ischen Phrasen über angebliche Kulturgemeinschaften mit Frank-
reich sich zu ergehen, sondern den Folgen einer Schwenkung zur
Ententenfront klar ins Auge zu sehen, desto schärfer bricht sich
eben bei allen irgendwie sachlich denkenden Politikern Bukarests
die Erkenntnis Bahn, daß der geschichtliche Erbfeind des Landes
allein Rußland ist, und daß Rumänien zu einem weichen Stück
Blei zwischen dem zarischen Hammer und dem serbischen Ambos werden
müßte, wollte es sich zum Helfershelfer der russischen Machtgier um
der schönen Augen Frankreichs willen erniedrigen. Es ist nach
allem nicht ausgeschlossen, daß der im Frühling dieses Jahres so
viel besprochene Plan eines Verteidigungsbündnisses zwischen der
Türkei, Rumänien und Bulgarien unter dem Druck der gegenwär-
tigen Verhältnisse Wirklichkeitsgestalt annimmt. Die dunkelste Seite
der Fernwirkungen der türkisch-russischen Kriegskrise bleibt das
Verhalten Italiens und Griechenlands. Eine Aehnlich-
[Spaltenumbruch] keit der politischen Schwebelage beider Mächte besteht insofern, als
hier wie dort das Volk oder richtiger gesagt die von Paris und
London beeinflußte Presse überwiegend dreiverbandsfreundlich
ist, während die Regierungen an einer vorsichtigen Neutralität
festzuhalten gewillt sind. Gerade die Maßlosigkeit der Hetze der
Ententenpolitiker hat aber doch sichtlich mehr und mehr eine ab-
kühlende Wirkung auf die Chauvinisten und Irredentisten Athens
wie Roms ausgeübt, so daß der Kurs der verantwortlichen Staats-
männer hier wie dort einstweilen nicht ernstlich gefährdet erscheint.
Ein kluger und weitsichtiger Ministerpräsident, wie es Veniselos
ist, dürfte große Bedenken tragen, die Kräfte seines Landes für
die schon halb bankrotte Sache Serbiens zu opfern und ebenso miß-
trauisch gegen die einstweilen jeder realen Grundlage entbehrenden
Versprechungen sein, mit denen London und Paris Griechenland
auf ihre Seite hinüberzulocken suchen. In Italien hat gerade das
Ableben San Giulianos gezeigt, daß das zurückgetretene
Kabinett Salandra, das nach Personalveränderungen wieder
in sein Amt eingesetzt worden ist, doch recht volkstümlich
ist, mithin auch die Politik der neutralen Linie, an der es bisher
festgehalten hat, kaum so im Widerspruch mit dem wahren, nicht
durch systematische Belügung irregeleiteten Willen der Nation stehen
kann, wie es an der Seine und Themse behauptet wird. Und da
die Türkei dafür zu sorgen sich verbindlich gemacht, daß die Leiden-
schaften des islamitischen Glaubenskampfes, des sogenannten
Heiligen Kriegs -- dessen Gefahren und Organisationsmöglichkeiten
übrigens weit überschätzt werden -- nicht auf Libyen übergreifen,
so bestehen auch, was Roms zukünftige Haltung anbelangt, günstige
Aussichten, daß die Schachzüge der Ententenpolitik in ein Matt-
spiel ausmünden.

Was die Operationspläne der Türkei anbelangt, so liegen die
nächsten und wichtigsten Aufgaben ihres Kampfes offensichtlich nach
drei Richtungen. Vorab eine kraftvolle Verteidigung der Dar-
danellen und der kleinasiatisch-syrischen Häfen gegen die zu er-
wartenden Angriffe der Flottengeschwader der Verbündeten. Die
Erzwingung der Durchfahrt durch den Hellespont dürfte den Feind
ein verderbliches Unternehmen bleiben; andrerseits ist es klar,
daß die britischen und französischen Kreuzer an der levantinischen
Küste durch Kaperei und Hafenzerstörung der Türkei großen
Schaden zufügen können. Die zweite dringendste Aufgabe für die
osmanische Kriegführung ist die Säuberung des Schwarzen Meeres
von russischen Kriegsschiffen und womöglich die Vernichtung der
russischen Häfen, teils um die Möglichkeit zarischer Truppen-
transporte nach der trapezuntischen Küste zu verhindern und damit
den osmanischen Verbänden Zeit zum Aufmarsch nach der
Kaukasusgrenze zu schaffen, teils um sich der großen Kriegsmittel-
vorräte zu bemächtigen, die Rußland in Odessa und im Bereich der
Krim aufgestapelt hat, und die Minen des revolutionären Geistes
der Völker Chersons und Tauriens zur Entzündung zu bringen.
Das entscheidende Problem aber bleibt die Frage der Eroberung
Aegyptens. Der dem Sueskanal sich vorlagernde Wüstengürtel des
e'Tih mag für europäische Truppen ein unmögliches Operations-
gebiet sein; für arabisch-beduinische, an das Klima und die Kampfes-
bedingungen der Steppe gewöhnte Verbände ist er das jedenfalls
nicht, und die entscheidenden Kämpfe dürften sich daher erst in der
Nähe von Ismailieh und Sues selbst abspielen. Wie sie ausfallen,
wird für den Weltkrieg von überragender Bedeutung sein. Denn
gelingt es einmal größeren osmanischen Truppenteilen, in Aegypten
einzudringen, dann wird hier die britische Herrschaft angesichts der
feindlichen Stimmung der ganzen Bevölkerung wie ein Kartenhaus
im Wind zusammenbrechen, dann aber wird sich auch die Wahr-
heit des Wortes bewähren, daß, sinkt der Union Jack am Nil, er
auch alsbald am Indus von den Masten geholt werden wird: Die
Schicksalsstunde des britischen Weltreichs würde geschlagen haben.



National und International.

Goethe hat einmal das ebenso wahre wie tiefsinnige Wort aus-
gesprochen: "Traue dem Leben, es trügt nie!" Das heißt: das
menschliche Leben in seinem Verlaufe belohnt mit derselben untrüg-
lichen Sicherheit alle guten und rechten Bestrebungen und führt sie
zum Siege, wie es mit unerbittlicher Gerechtigkeit das Böse straft,

7. November 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] aufzuhetzen. Wenn die Redensart vom „kranken Mann“ am Bos-
porus allgemein wurde, ſo trägt die Hauptſchuld an dieſem Siech-
tum zweifellos Petersburg, das bald ſeine Armeen gegen Rumelien
vorrücken ließ, um ſeinen byzantiniſchen Machtſtämmen gemäß das
griechiſche Kreuz auf der Hagia Sophia aufzurichten, in den Frie-
denspauſen aber unaufhörlich und mit allen Schikanen an der inneren
Aufweichung des osmaniſchen Reichs arbeitete. Keine beſſeren
Freunde der Türkei ſind England und Frankreich geweſen. Sie
haben wohl einſt im Krimkrieg, um den zariſchen Koloß niederzu-
halten, mit der Türkei Schulter an Schulter gefochten, als Preis
der Hilfe ſich dann aber die Kapitulationen und andere Rechte
ausbedungen, die ebenfalls darauf hinzielten, jeden Geſundungs-
prozeß des kranken Mann unmöglich zu machen. Mit dem Be-
ginn der Ententenverbrüderung zwiſchen London und Paris nach
Faſchoda ſetzte dann überdies die Politik der ſyſtematiſchen Ab-
bröckelung der Außengebiete der Türkei und ihrer Schutzſtaaten als
Vormacht des Islam ein: Aegypten und der Sudan wurden von
England beſchlagnahmt, Arabien rings von britiſchen Vorpoſten
eingekreiſt, auf den Maghreb die Fauſt von Frankreich gelegt,
Perſien, Afghaniſtan zwiſchen die Mühlſteine des berüchtigten
mittelaſiatiſchen Vertrags Londons und Petersburg gequetſcht. Die
Hohe Pforte hat nicht ihre Selbſtverfügungsrechte, die von ganz
anderer Seite bedroht werden, durch die Anlehnung an Deutſch-
land verloren, will ſie vielmehr eben durch dieſe Kampfgenoſſenſchaft
in vollem Umfang wiedergewinnen, und dasſelbe gilt von der gan-
zen Welt des Islams, der niemals deutlicher als heute empfunden
hat, daß das Los ſeiner Zukunft in derſelben Urne geſchüttelt wird,
in der über der deutſchen Nationen Schickſal die Würfel fallen.
Solche politiſche Tatſachengewichte ſind es, welche der Geſamtheit
der Müslims heute die Geſchloſſenheit und die enheitliche Bewegung
auf ein klar erkanntes Ziel hin gaben, die ſie als religiöſe Kirchen-
gemeinſchaft nicht beſitzt, und die Stoßkraft dieſer elementaren
Aufflutung des Meeres der mohammedaniſchen Maſſen wird man
in allen Ententen-Kriegslagern ſehr bald deutlich verſpüren.

Einſtweilen freilich wendet ſich das nächſtliegende Intereſſe
nicht der Frage zu, in welcher Weiſe und unter welchen Bedingun-
gen die Türkei dieſe Heere der Glaubensgenoſſen ihren Zweck dienſt-
bar machen und ſie in Bewegung ſetzen kann, ſondern dem Pro-
blem, wie ſich die Balkanſtaaten, mit denen ſie noch vor wenigen
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Pforte gegen den Ententenbund ſtellen werden. Der Gegner, der
damals als Genoſſe des von Iswolski geſtiſteten Balkanbundes am
ſchärfſten dem osmaniſchen Reich zuſetzte, wird zweifellos die Waffen
diesmal nicht gegen Konſtantinopel erheben; die Wahrſcheinlichkeit
ſpricht vielmehr dafür, daß ſich Bulgarien eher trotz allen
Petersburger Lockungen mit dem allſlawiſchen Zuckerbrot und trotz
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zariſchen Koloß anſchließen wird. Man hat eben in Sofia damals
nur zu deutlich empfunden, was die Petersburger Freundſchaft
bedeutet: für die blutige Arbeit der Zerſchmetterung der türkiſchen
Armeen war man gut genug, als das bulgariſche Heer ſich Kon-
ſtantinopel näherte, runzelten die Politiker an der Newa die Stirn,
und als es galt, die Kriegsbeute zu teilen, wurde das Land rück-
ſichtslos dem ſerbiſchen Machthunger preisgegeben. Als König
Karol ſtarb, war man in Deutſchland nicht ohne Sorge, daß der
Tod dieſes Schildhalters der „deutſchen Wacht an der unteren
Donau“, der ſelbſt ſchon Mühe genug gehabt hatte, ſeine dreibund-
freundliche Politik gegen die franzöſelnden Parteien Rumäniens
zu verteidigen, einen vollſtändigen Umſchwung in der Haltung
Bukareſts herbeiführen würde; auch dieſe Befürchtung ſcheint ſich
als grundlos zu erweiſen. Je mehr es gilt, nicht in ſchönredner-
iſchen Phraſen über angebliche Kulturgemeinſchaften mit Frank-
reich ſich zu ergehen, ſondern den Folgen einer Schwenkung zur
Ententenfront klar ins Auge zu ſehen, deſto ſchärfer bricht ſich
eben bei allen irgendwie ſachlich denkenden Politikern Bukareſts
die Erkenntnis Bahn, daß der geſchichtliche Erbfeind des Landes
allein Rußland iſt, und daß Rumänien zu einem weichen Stück
Blei zwiſchen dem zariſchen Hammer und dem ſerbiſchen Ambos werden
müßte, wollte es ſich zum Helfershelfer der ruſſiſchen Machtgier um
der ſchönen Augen Frankreichs willen erniedrigen. Es iſt nach
allem nicht ausgeſchloſſen, daß der im Frühling dieſes Jahres ſo
viel beſprochene Plan eines Verteidigungsbündniſſes zwiſchen der
Türkei, Rumänien und Bulgarien unter dem Druck der gegenwär-
tigen Verhältniſſe Wirklichkeitsgeſtalt annimmt. Die dunkelſte Seite
der Fernwirkungen der türkiſch-ruſſiſchen Kriegskriſe bleibt das
Verhalten Italiens und Griechenlands. Eine Aehnlich-
[Spaltenumbruch] keit der politiſchen Schwebelage beider Mächte beſteht inſofern, als
hier wie dort das Volk oder richtiger geſagt die von Paris und
London beeinflußte Preſſe überwiegend dreiverbandsfreundlich
iſt, während die Regierungen an einer vorſichtigen Neutralität
feſtzuhalten gewillt ſind. Gerade die Maßloſigkeit der Hetze der
Ententenpolitiker hat aber doch ſichtlich mehr und mehr eine ab-
kühlende Wirkung auf die Chauviniſten und Irredentiſten Athens
wie Roms ausgeübt, ſo daß der Kurs der verantwortlichen Staats-
männer hier wie dort einſtweilen nicht ernſtlich gefährdet erſcheint.
Ein kluger und weitſichtiger Miniſterpräſident, wie es Veniſelos
iſt, dürfte große Bedenken tragen, die Kräfte ſeines Landes für
die ſchon halb bankrotte Sache Serbiens zu opfern und ebenſo miß-
trauiſch gegen die einſtweilen jeder realen Grundlage entbehrenden
Verſprechungen ſein, mit denen London und Paris Griechenland
auf ihre Seite hinüberzulocken ſuchen. In Italien hat gerade das
Ableben San Giulianos gezeigt, daß das zurückgetretene
Kabinett Salandra, das nach Perſonalveränderungen wieder
in ſein Amt eingeſetzt worden iſt, doch recht volkstümlich
iſt, mithin auch die Politik der neutralen Linie, an der es bisher
feſtgehalten hat, kaum ſo im Widerſpruch mit dem wahren, nicht
durch ſyſtematiſche Belügung irregeleiteten Willen der Nation ſtehen
kann, wie es an der Seine und Themſe behauptet wird. Und da
die Türkei dafür zu ſorgen ſich verbindlich gemacht, daß die Leiden-
ſchaften des islamitiſchen Glaubenskampfes, des ſogenannten
Heiligen Kriegs — deſſen Gefahren und Organiſationsmöglichkeiten
übrigens weit überſchätzt werden — nicht auf Libyen übergreifen,
ſo beſtehen auch, was Roms zukünftige Haltung anbelangt, günſtige
Ausſichten, daß die Schachzüge der Ententenpolitik in ein Matt-
ſpiel ausmünden.

Was die Operationspläne der Türkei anbelangt, ſo liegen die
nächſten und wichtigſten Aufgaben ihres Kampfes offenſichtlich nach
drei Richtungen. Vorab eine kraftvolle Verteidigung der Dar-
danellen und der kleinaſiatiſch-ſyriſchen Häfen gegen die zu er-
wartenden Angriffe der Flottengeſchwader der Verbündeten. Die
Erzwingung der Durchfahrt durch den Hellespont dürfte den Feind
ein verderbliches Unternehmen bleiben; andrerſeits iſt es klar,
daß die britiſchen und franzöſiſchen Kreuzer an der levantiniſchen
Küſte durch Kaperei und Hafenzerſtörung der Türkei großen
Schaden zufügen können. Die zweite dringendſte Aufgabe für die
osmaniſche Kriegführung iſt die Säuberung des Schwarzen Meeres
von ruſſiſchen Kriegsſchiffen und womöglich die Vernichtung der
ruſſiſchen Häfen, teils um die Möglichkeit zariſcher Truppen-
transporte nach der trapezuntiſchen Küſte zu verhindern und damit
den osmaniſchen Verbänden Zeit zum Aufmarſch nach der
Kaukaſusgrenze zu ſchaffen, teils um ſich der großen Kriegsmittel-
vorräte zu bemächtigen, die Rußland in Odeſſa und im Bereich der
Krim aufgeſtapelt hat, und die Minen des revolutionären Geiſtes
der Völker Cherſons und Tauriens zur Entzündung zu bringen.
Das entſcheidende Problem aber bleibt die Frage der Eroberung
Aegyptens. Der dem Sueskanal ſich vorlagernde Wüſtengürtel des
e’Tih mag für europäiſche Truppen ein unmögliches Operations-
gebiet ſein; für arabiſch-beduiniſche, an das Klima und die Kampfes-
bedingungen der Steppe gewöhnte Verbände iſt er das jedenfalls
nicht, und die entſcheidenden Kämpfe dürften ſich daher erſt in der
Nähe von Ismailieh und Sues ſelbſt abſpielen. Wie ſie ausfallen,
wird für den Weltkrieg von überragender Bedeutung ſein. Denn
gelingt es einmal größeren osmaniſchen Truppenteilen, in Aegypten
einzudringen, dann wird hier die britiſche Herrſchaft angeſichts der
feindlichen Stimmung der ganzen Bevölkerung wie ein Kartenhaus
im Wind zuſammenbrechen, dann aber wird ſich auch die Wahr-
heit des Wortes bewähren, daß, ſinkt der Union Jack am Nil, er
auch alsbald am Indus von den Maſten geholt werden wird: Die
Schickſalsſtunde des britiſchen Weltreichs würde geſchlagen haben.



National und International.

Goethe hat einmal das ebenſo wahre wie tiefſinnige Wort aus-
geſprochen: „Traue dem Leben, es trügt nie!“ Das heißt: das
menſchliche Leben in ſeinem Verlaufe belohnt mit derſelben untrüg-
lichen Sicherheit alle guten und rechten Beſtrebungen und führt ſie
zum Siege, wie es mit unerbittlicher Gerechtigkeit das Böſe ſtraft,

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[651/0007] 7. November 1914. Allgemeine Zeitung aufzuhetzen. Wenn die Redensart vom „kranken Mann“ am Bos- porus allgemein wurde, ſo trägt die Hauptſchuld an dieſem Siech- tum zweifellos Petersburg, das bald ſeine Armeen gegen Rumelien vorrücken ließ, um ſeinen byzantiniſchen Machtſtämmen gemäß das griechiſche Kreuz auf der Hagia Sophia aufzurichten, in den Frie- denspauſen aber unaufhörlich und mit allen Schikanen an der inneren Aufweichung des osmaniſchen Reichs arbeitete. Keine beſſeren Freunde der Türkei ſind England und Frankreich geweſen. Sie haben wohl einſt im Krimkrieg, um den zariſchen Koloß niederzu- halten, mit der Türkei Schulter an Schulter gefochten, als Preis der Hilfe ſich dann aber die Kapitulationen und andere Rechte ausbedungen, die ebenfalls darauf hinzielten, jeden Geſundungs- prozeß des kranken Mann unmöglich zu machen. Mit dem Be- ginn der Ententenverbrüderung zwiſchen London und Paris nach Faſchoda ſetzte dann überdies die Politik der ſyſtematiſchen Ab- bröckelung der Außengebiete der Türkei und ihrer Schutzſtaaten als Vormacht des Islam ein: Aegypten und der Sudan wurden von England beſchlagnahmt, Arabien rings von britiſchen Vorpoſten eingekreiſt, auf den Maghreb die Fauſt von Frankreich gelegt, Perſien, Afghaniſtan zwiſchen die Mühlſteine des berüchtigten mittelaſiatiſchen Vertrags Londons und Petersburg gequetſcht. Die Hohe Pforte hat nicht ihre Selbſtverfügungsrechte, die von ganz anderer Seite bedroht werden, durch die Anlehnung an Deutſch- land verloren, will ſie vielmehr eben durch dieſe Kampfgenoſſenſchaft in vollem Umfang wiedergewinnen, und dasſelbe gilt von der gan- zen Welt des Islams, der niemals deutlicher als heute empfunden hat, daß das Los ſeiner Zukunft in derſelben Urne geſchüttelt wird, in der über der deutſchen Nationen Schickſal die Würfel fallen. Solche politiſche Tatſachengewichte ſind es, welche der Geſamtheit der Müslims heute die Geſchloſſenheit und die enheitliche Bewegung auf ein klar erkanntes Ziel hin gaben, die ſie als religiöſe Kirchen- gemeinſchaft nicht beſitzt, und die Stoßkraft dieſer elementaren Aufflutung des Meeres der mohammedaniſchen Maſſen wird man in allen Ententen-Kriegslagern ſehr bald deutlich verſpüren. Einſtweilen freilich wendet ſich das nächſtliegende Intereſſe nicht der Frage zu, in welcher Weiſe und unter welchen Bedingun- gen die Türkei dieſe Heere der Glaubensgenoſſen ihren Zweck dienſt- bar machen und ſie in Bewegung ſetzen kann, ſondern dem Pro- blem, wie ſich die Balkanſtaaten, mit denen ſie noch vor wenigen Jahren in erbittertem Kampf lag, zu der Parteinahme der Hohen Pforte gegen den Ententenbund ſtellen werden. Der Gegner, der damals als Genoſſe des von Iswolski geſtiſteten Balkanbundes am ſchärfſten dem osmaniſchen Reich zuſetzte, wird zweifellos die Waffen diesmal nicht gegen Konſtantinopel erheben; die Wahrſcheinlichkeit ſpricht vielmehr dafür, daß ſich Bulgarien eher trotz allen Petersburger Lockungen mit dem allſlawiſchen Zuckerbrot und trotz allen Drohungen mit der allruſſiſchen Knute dem Kampf gegen den zariſchen Koloß anſchließen wird. Man hat eben in Sofia damals nur zu deutlich empfunden, was die Petersburger Freundſchaft bedeutet: für die blutige Arbeit der Zerſchmetterung der türkiſchen Armeen war man gut genug, als das bulgariſche Heer ſich Kon- ſtantinopel näherte, runzelten die Politiker an der Newa die Stirn, und als es galt, die Kriegsbeute zu teilen, wurde das Land rück- ſichtslos dem ſerbiſchen Machthunger preisgegeben. Als König Karol ſtarb, war man in Deutſchland nicht ohne Sorge, daß der Tod dieſes Schildhalters der „deutſchen Wacht an der unteren Donau“, der ſelbſt ſchon Mühe genug gehabt hatte, ſeine dreibund- freundliche Politik gegen die franzöſelnden Parteien Rumäniens zu verteidigen, einen vollſtändigen Umſchwung in der Haltung Bukareſts herbeiführen würde; auch dieſe Befürchtung ſcheint ſich als grundlos zu erweiſen. Je mehr es gilt, nicht in ſchönredner- iſchen Phraſen über angebliche Kulturgemeinſchaften mit Frank- reich ſich zu ergehen, ſondern den Folgen einer Schwenkung zur Ententenfront klar ins Auge zu ſehen, deſto ſchärfer bricht ſich eben bei allen irgendwie ſachlich denkenden Politikern Bukareſts die Erkenntnis Bahn, daß der geſchichtliche Erbfeind des Landes allein Rußland iſt, und daß Rumänien zu einem weichen Stück Blei zwiſchen dem zariſchen Hammer und dem ſerbiſchen Ambos werden müßte, wollte es ſich zum Helfershelfer der ruſſiſchen Machtgier um der ſchönen Augen Frankreichs willen erniedrigen. Es iſt nach allem nicht ausgeſchloſſen, daß der im Frühling dieſes Jahres ſo viel beſprochene Plan eines Verteidigungsbündniſſes zwiſchen der Türkei, Rumänien und Bulgarien unter dem Druck der gegenwär- tigen Verhältniſſe Wirklichkeitsgeſtalt annimmt. Die dunkelſte Seite der Fernwirkungen der türkiſch-ruſſiſchen Kriegskriſe bleibt das Verhalten Italiens und Griechenlands. Eine Aehnlich- keit der politiſchen Schwebelage beider Mächte beſteht inſofern, als hier wie dort das Volk oder richtiger geſagt die von Paris und London beeinflußte Preſſe überwiegend dreiverbandsfreundlich iſt, während die Regierungen an einer vorſichtigen Neutralität feſtzuhalten gewillt ſind. Gerade die Maßloſigkeit der Hetze der Ententenpolitiker hat aber doch ſichtlich mehr und mehr eine ab- kühlende Wirkung auf die Chauviniſten und Irredentiſten Athens wie Roms ausgeübt, ſo daß der Kurs der verantwortlichen Staats- männer hier wie dort einſtweilen nicht ernſtlich gefährdet erſcheint. Ein kluger und weitſichtiger Miniſterpräſident, wie es Veniſelos iſt, dürfte große Bedenken tragen, die Kräfte ſeines Landes für die ſchon halb bankrotte Sache Serbiens zu opfern und ebenſo miß- trauiſch gegen die einſtweilen jeder realen Grundlage entbehrenden Verſprechungen ſein, mit denen London und Paris Griechenland auf ihre Seite hinüberzulocken ſuchen. In Italien hat gerade das Ableben San Giulianos gezeigt, daß das zurückgetretene Kabinett Salandra, das nach Perſonalveränderungen wieder in ſein Amt eingeſetzt worden iſt, doch recht volkstümlich iſt, mithin auch die Politik der neutralen Linie, an der es bisher feſtgehalten hat, kaum ſo im Widerſpruch mit dem wahren, nicht durch ſyſtematiſche Belügung irregeleiteten Willen der Nation ſtehen kann, wie es an der Seine und Themſe behauptet wird. Und da die Türkei dafür zu ſorgen ſich verbindlich gemacht, daß die Leiden- ſchaften des islamitiſchen Glaubenskampfes, des ſogenannten Heiligen Kriegs — deſſen Gefahren und Organiſationsmöglichkeiten übrigens weit überſchätzt werden — nicht auf Libyen übergreifen, ſo beſtehen auch, was Roms zukünftige Haltung anbelangt, günſtige Ausſichten, daß die Schachzüge der Ententenpolitik in ein Matt- ſpiel ausmünden. Was die Operationspläne der Türkei anbelangt, ſo liegen die nächſten und wichtigſten Aufgaben ihres Kampfes offenſichtlich nach drei Richtungen. Vorab eine kraftvolle Verteidigung der Dar- danellen und der kleinaſiatiſch-ſyriſchen Häfen gegen die zu er- wartenden Angriffe der Flottengeſchwader der Verbündeten. Die Erzwingung der Durchfahrt durch den Hellespont dürfte den Feind ein verderbliches Unternehmen bleiben; andrerſeits iſt es klar, daß die britiſchen und franzöſiſchen Kreuzer an der levantiniſchen Küſte durch Kaperei und Hafenzerſtörung der Türkei großen Schaden zufügen können. Die zweite dringendſte Aufgabe für die osmaniſche Kriegführung iſt die Säuberung des Schwarzen Meeres von ruſſiſchen Kriegsſchiffen und womöglich die Vernichtung der ruſſiſchen Häfen, teils um die Möglichkeit zariſcher Truppen- transporte nach der trapezuntiſchen Küſte zu verhindern und damit den osmaniſchen Verbänden Zeit zum Aufmarſch nach der Kaukaſusgrenze zu ſchaffen, teils um ſich der großen Kriegsmittel- vorräte zu bemächtigen, die Rußland in Odeſſa und im Bereich der Krim aufgeſtapelt hat, und die Minen des revolutionären Geiſtes der Völker Cherſons und Tauriens zur Entzündung zu bringen. Das entſcheidende Problem aber bleibt die Frage der Eroberung Aegyptens. Der dem Sueskanal ſich vorlagernde Wüſtengürtel des e’Tih mag für europäiſche Truppen ein unmögliches Operations- gebiet ſein; für arabiſch-beduiniſche, an das Klima und die Kampfes- bedingungen der Steppe gewöhnte Verbände iſt er das jedenfalls nicht, und die entſcheidenden Kämpfe dürften ſich daher erſt in der Nähe von Ismailieh und Sues ſelbſt abſpielen. Wie ſie ausfallen, wird für den Weltkrieg von überragender Bedeutung ſein. Denn gelingt es einmal größeren osmaniſchen Truppenteilen, in Aegypten einzudringen, dann wird hier die britiſche Herrſchaft angeſichts der feindlichen Stimmung der ganzen Bevölkerung wie ein Kartenhaus im Wind zuſammenbrechen, dann aber wird ſich auch die Wahr- heit des Wortes bewähren, daß, ſinkt der Union Jack am Nil, er auch alsbald am Indus von den Maſten geholt werden wird: Die Schickſalsſtunde des britiſchen Weltreichs würde geſchlagen haben. Dr. Frhr. v. Mackay. National und International. Von Wolfgang Eiſenhart. Goethe hat einmal das ebenſo wahre wie tiefſinnige Wort aus- geſprochen: „Traue dem Leben, es trügt nie!“ Das heißt: das menſchliche Leben in ſeinem Verlaufe belohnt mit derſelben untrüg- lichen Sicherheit alle guten und rechten Beſtrebungen und führt ſie zum Siege, wie es mit unerbittlicher Gerechtigkeit das Böſe ſtraft,

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 45, 7. November 1914, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine45_1914/7>, abgerufen am 15.05.2024.