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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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durchfliegenden Blicken trat er in den hellen
wie aus Licht krystallisirten Saal voll Köpfe.
Er antwortete eben, als er im Tumulte hinter
sich das leise Wort vernahm: "ich höre ja den
"Bruder" -- und sogleich die leisere Widerle¬
gung: "es ist mein Graf." -- Er drehte sich
um -- zwischen dem Lektor und der Mutter
stand die liebe Liane, der verschämte, erschrockne
blaßrothe Engel im schwarzen Seidenkleide, das
nur der blinkende Frühlingsreif einer silbernen
Kette überlief, und mit einem leichten Band
im blonden Haar. Die Mutter stellte sie ihm
vor und die zarte Wange blühte röther auf --
denn sie hatte ja die gleichen Stimmen des
Gastes und des Bruders vermengt -- und sie
schlug die schönen Augen nieder, die nichts se¬
hen konnten. Ach Albano wie zittert dein Herz
so sehr, da die Vergangenheit zur Gegenwart,
die Mondnacht zum Frühlingsmorgen wird
und du diese stille Gestalt in der Nähe noch
allmächtiger wirkt als in jedem Traume! --
Sie war ihm zu heilig, als daß er vor ihr
über die scheinbare Heilung hätte lügen kön¬
nen; er schwieg lieber; -- und so kam der

durchfliegenden Blicken trat er in den hellen
wie aus Licht kryſtalliſirten Saal voll Köpfe.
Er antwortete eben, als er im Tumulte hinter
ſich das leiſe Wort vernahm: „ich höre ja den
„Bruder“ — und ſogleich die leiſere Widerle¬
gung: „es iſt mein Graf.“ — Er drehte ſich
um — zwiſchen dem Lektor und der Mutter
ſtand die liebe Liane, der verſchämte, erſchrockne
blaßrothe Engel im ſchwarzen Seidenkleide, das
nur der blinkende Frühlingsreif einer ſilbernen
Kette überlief, und mit einem leichten Band
im blonden Haar. Die Mutter ſtellte ſie ihm
vor und die zarte Wange blühte röther auf —
denn ſie hatte ja die gleichen Stimmen des
Gaſtes und des Bruders vermengt — und ſie
ſchlug die ſchönen Augen nieder, die nichts ſe¬
hen konnten. Ach Albano wie zittert dein Herz
ſo ſehr, da die Vergangenheit zur Gegenwart,
die Mondnacht zum Frühlingsmorgen wird
und du dieſe ſtille Geſtalt in der Nähe noch
allmächtiger wirkt als in jedem Traume! —
Sie war ihm zu heilig, als daß er vor ihr
über die ſcheinbare Heilung hätte lügen kön¬
nen; er ſchwieg lieber; — und ſo kam der

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[382/0402] durchfliegenden Blicken trat er in den hellen wie aus Licht kryſtalliſirten Saal voll Köpfe. Er antwortete eben, als er im Tumulte hinter ſich das leiſe Wort vernahm: „ich höre ja den „Bruder“ — und ſogleich die leiſere Widerle¬ gung: „es iſt mein Graf.“ — Er drehte ſich um — zwiſchen dem Lektor und der Mutter ſtand die liebe Liane, der verſchämte, erſchrockne blaßrothe Engel im ſchwarzen Seidenkleide, das nur der blinkende Frühlingsreif einer ſilbernen Kette überlief, und mit einem leichten Band im blonden Haar. Die Mutter ſtellte ſie ihm vor und die zarte Wange blühte röther auf — denn ſie hatte ja die gleichen Stimmen des Gaſtes und des Bruders vermengt — und ſie ſchlug die ſchönen Augen nieder, die nichts ſe¬ hen konnten. Ach Albano wie zittert dein Herz ſo ſehr, da die Vergangenheit zur Gegenwart, die Mondnacht zum Frühlingsmorgen wird und du dieſe ſtille Geſtalt in der Nähe noch allmächtiger wirkt als in jedem Traume! — Sie war ihm zu heilig, als daß er vor ihr über die ſcheinbare Heilung hätte lügen kön¬ nen; er ſchwieg lieber; — und ſo kam der

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/402>, abgerufen am 26.04.2024.