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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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Er drang eifrig dem Knaben das Zurück¬
tragen der Blätter ab, um ihr und sich, da sie
jede Minute erscheinen konnte, die peinlichste
Überraschung zu ersparen; doch beschloß er fest
-- was es auch koste --, wahr zu seyn und
ihr noch heute sein Lesen zu beichten.

Der Kleine lief die Treppe hinauf, wieder
herab, blieb lange vor der Thüre und kam
herein mit -- Lianen an der Hand, die weiß
gekleidet und schwarz verschleiert war. Sie
sah ein wenig betroffen umher als sie mit bei¬
den Händen den Schleier von ihrem freundli¬
chen Gesichte zurückhob, hörte aber Charitons
Wiegenlied. Sie kannt' ihn nicht, bis er
sprach; und hier erröthete ihr ganzes schönes
Wesen wie eine beleuchtete Landschaft nach dem
Abendregen; sie habe die Freude, sagte sie,
seinen Vater zu kennen. Wahrscheinlich kannte
sie den Sohn durch Juliennens und Augusti's
Malereien noch besser und von verwandtern
Seiten; auch bewegte sich gewiß ihr schwester¬
liches Herz von seiner Bruderstimme; denn
der Reiz und sogar Vorzug der Ähnlichkeit und
Kopie ist so groß, daß sogar einer, der

Er drang eifrig dem Knaben das Zurück¬
tragen der Blätter ab, um ihr und ſich, da ſie
jede Minute erſcheinen konnte, die peinlichſte
Überraſchung zu erſparen; doch beſchloß er feſt
— was es auch koſte —, wahr zu ſeyn und
ihr noch heute ſein Leſen zu beichten.

Der Kleine lief die Treppe hinauf, wieder
herab, blieb lange vor der Thüre und kam
herein mit — Lianen an der Hand, die weiß
gekleidet und ſchwarz verſchleiert war. Sie
ſah ein wenig betroffen umher als ſie mit bei¬
den Händen den Schleier von ihrem freundli¬
chen Geſichte zurückhob, hörte aber Charitons
Wiegenlied. Sie kannt' ihn nicht, bis er
ſprach; und hier erröthete ihr ganzes ſchönes
Weſen wie eine beleuchtete Landſchaft nach dem
Abendregen; ſie habe die Freude, ſagte ſie,
ſeinen Vater zu kennen. Wahrſcheinlich kannte
ſie den Sohn durch Juliennens und Auguſti's
Malereien noch beſſer und von verwandtern
Seiten; auch bewegte ſich gewiß ihr ſchweſter¬
liches Herz von ſeiner Bruderſtimme; denn
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[424/0444] Er drang eifrig dem Knaben das Zurück¬ tragen der Blätter ab, um ihr und ſich, da ſie jede Minute erſcheinen konnte, die peinlichſte Überraſchung zu erſparen; doch beſchloß er feſt — was es auch koſte —, wahr zu ſeyn und ihr noch heute ſein Leſen zu beichten. Der Kleine lief die Treppe hinauf, wieder herab, blieb lange vor der Thüre und kam herein mit — Lianen an der Hand, die weiß gekleidet und ſchwarz verſchleiert war. Sie ſah ein wenig betroffen umher als ſie mit bei¬ den Händen den Schleier von ihrem freundli¬ chen Geſichte zurückhob, hörte aber Charitons Wiegenlied. Sie kannt' ihn nicht, bis er ſprach; und hier erröthete ihr ganzes ſchönes Weſen wie eine beleuchtete Landſchaft nach dem Abendregen; ſie habe die Freude, ſagte ſie, ſeinen Vater zu kennen. Wahrſcheinlich kannte ſie den Sohn durch Juliennens und Auguſti's Malereien noch beſſer und von verwandtern Seiten; auch bewegte ſich gewiß ihr ſchweſter¬ liches Herz von ſeiner Bruderſtimme; denn der Reiz und ſogar Vorzug der Ähnlichkeit und Kopie iſt ſo groß, daß ſogar einer, der

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/444>, abgerufen am 27.04.2024.