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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
dass derselbe Menschenschlag jede Zone der Erde bevölkern kann,
denn niemand bestreitet, dass der Hindu hoher Kaste, sei es in
Bengalen, sei es in Madras oder im Sind, oder an irgendeiner
heissen Stelle seiner Heimath, arischer Abkunft sei, wie die alt-
nordischen Bewohner Islands, und dass die unbekannten Urvor-
fahren beider eine gemeinsame Heimath bewohnt haben müssen.
Auch wird niemand Lust haben zu behaupten, dass die gothischen
Eroberer jenseits der Pyrenäen nicht lange Zeit die Reinheit ihres
"blauen Blutes" bewahrt, also Kinder ihres Stammes, Spanier in
Spanien erzeugt haben. Aus der spanischen Halbinsel stammten
wiederum die Ansiedler auf Madeira und den Canarien, die von
dort nach Ausbruch der Traubenkrankheit schaarenweise vor zwei
Jahrzehnten nach Trinidad und dem britischen Guayana aus-
gewandert sind. Alle Völkerkundigen sind einig darüber, dass die
Eingebornen Amerikas höchstens mit Ausnahme der Eskimo eine
einzige Race bilden und dieser einzigen Race gelang es sich auf
beiden Halbkugeln vom nördlichen Polarkreis bis zum Aequator
und wiederum bis über den 50. Breitegrad allen Witterungsver-
hältnissen anzupassen. Die Chinesen treffen wir in Maimatschin
(Kiachta) an der sibirischen Grenze, wo die Mitteltemperatur noch
unter dem Gefrierpunkt liegt und das Thermometer bis auf -- 40° R.
im Winter sinkt, und zugleich auf der Insel Singapur, die fast vom
Aequator berührt wird 1). Türkische Völker, wie die Jakuten,
sitzen an der Lena, wo sie Kennan bei -- 32° R. nur mit einem
Hemd und Pelz bekleidet im Freien plaudernd antraf 2), weiden
wie die Kirgisen auf der vielleicht höchsten Steppe der Erde, auf
dem Pamir-Plateau, und wohnen als Herrscher im heissen Süd-
ägypten 3), sowie in dem verrufenen Massaua am rothen Meere.

Bei der Musterung der Racenmerkmale wird es sich am
besten zeigen, wie wenig ihre grossen Schwankungen feste Grenzen
zu ziehen erlauben, vorläufig aber sei es uns verstattet an einer
Reihe von Thatsachen zu zeigen, dass die abgelegensten Völker
und die äusserlich am wenigsten sich nahe stehenden Menschen-
racen in ihren geistigen Regungen sich auf eine so überraschende
Weise begegnen, dass wenigstens in Bezug auf das Denkvermögen

1) Pumpelly, Across America and Asia. London 1870. p. 256.
2) Tent-Life in Siberia. p. 218.
3) Latham, Varieties of Man. p. 77.

Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
dass derselbe Menschenschlag jede Zone der Erde bevölkern kann,
denn niemand bestreitet, dass der Hindu hoher Kaste, sei es in
Bengalen, sei es in Madras oder im Sind, oder an irgendeiner
heissen Stelle seiner Heimath, arischer Abkunft sei, wie die alt-
nordischen Bewohner Islands, und dass die unbekannten Urvor-
fahren beider eine gemeinsame Heimath bewohnt haben müssen.
Auch wird niemand Lust haben zu behaupten, dass die gothischen
Eroberer jenseits der Pyrenäen nicht lange Zeit die Reinheit ihres
„blauen Blutes“ bewahrt, also Kinder ihres Stammes, Spanier in
Spanien erzeugt haben. Aus der spanischen Halbinsel stammten
wiederum die Ansiedler auf Madeira und den Canarien, die von
dort nach Ausbruch der Traubenkrankheit schaarenweise vor zwei
Jahrzehnten nach Trinidad und dem britischen Guayana aus-
gewandert sind. Alle Völkerkundigen sind einig darüber, dass die
Eingebornen Amerikas höchstens mit Ausnahme der Eskimo eine
einzige Race bilden und dieser einzigen Race gelang es sich auf
beiden Halbkugeln vom nördlichen Polarkreis bis zum Aequator
und wiederum bis über den 50. Breitegrad allen Witterungsver-
hältnissen anzupassen. Die Chinesen treffen wir in Maimatschin
(Kiachta) an der sibirischen Grenze, wo die Mitteltemperatur noch
unter dem Gefrierpunkt liegt und das Thermometer bis auf — 40° R.
im Winter sinkt, und zugleich auf der Insel Singapur, die fast vom
Aequator berührt wird 1). Türkische Völker, wie die Jakuten,
sitzen an der Lena, wo sie Kennan bei — 32° R. nur mit einem
Hemd und Pelz bekleidet im Freien plaudernd antraf 2), weiden
wie die Kirgisen auf der vielleicht höchsten Steppe der Erde, auf
dem Pamir-Plateau, und wohnen als Herrscher im heissen Süd-
ägypten 3), sowie in dem verrufenen Massaua am rothen Meere.

Bei der Musterung der Racenmerkmale wird es sich am
besten zeigen, wie wenig ihre grossen Schwankungen feste Grenzen
zu ziehen erlauben, vorläufig aber sei es uns verstattet an einer
Reihe von Thatsachen zu zeigen, dass die abgelegensten Völker
und die äusserlich am wenigsten sich nahe stehenden Menschen-
racen in ihren geistigen Regungen sich auf eine so überraschende
Weise begegnen, dass wenigstens in Bezug auf das Denkvermögen

1) Pumpelly, Across America and Asia. London 1870. p. 256.
2) Tent-Life in Siberia. p. 218.
3) Latham, Varieties of Man. p. 77.
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[22/0040] Arteneinheit des Menschengeschlechtes. dass derselbe Menschenschlag jede Zone der Erde bevölkern kann, denn niemand bestreitet, dass der Hindu hoher Kaste, sei es in Bengalen, sei es in Madras oder im Sind, oder an irgendeiner heissen Stelle seiner Heimath, arischer Abkunft sei, wie die alt- nordischen Bewohner Islands, und dass die unbekannten Urvor- fahren beider eine gemeinsame Heimath bewohnt haben müssen. Auch wird niemand Lust haben zu behaupten, dass die gothischen Eroberer jenseits der Pyrenäen nicht lange Zeit die Reinheit ihres „blauen Blutes“ bewahrt, also Kinder ihres Stammes, Spanier in Spanien erzeugt haben. Aus der spanischen Halbinsel stammten wiederum die Ansiedler auf Madeira und den Canarien, die von dort nach Ausbruch der Traubenkrankheit schaarenweise vor zwei Jahrzehnten nach Trinidad und dem britischen Guayana aus- gewandert sind. Alle Völkerkundigen sind einig darüber, dass die Eingebornen Amerikas höchstens mit Ausnahme der Eskimo eine einzige Race bilden und dieser einzigen Race gelang es sich auf beiden Halbkugeln vom nördlichen Polarkreis bis zum Aequator und wiederum bis über den 50. Breitegrad allen Witterungsver- hältnissen anzupassen. Die Chinesen treffen wir in Maimatschin (Kiachta) an der sibirischen Grenze, wo die Mitteltemperatur noch unter dem Gefrierpunkt liegt und das Thermometer bis auf — 40° R. im Winter sinkt, und zugleich auf der Insel Singapur, die fast vom Aequator berührt wird 1). Türkische Völker, wie die Jakuten, sitzen an der Lena, wo sie Kennan bei — 32° R. nur mit einem Hemd und Pelz bekleidet im Freien plaudernd antraf 2), weiden wie die Kirgisen auf der vielleicht höchsten Steppe der Erde, auf dem Pamir-Plateau, und wohnen als Herrscher im heissen Süd- ägypten 3), sowie in dem verrufenen Massaua am rothen Meere. Bei der Musterung der Racenmerkmale wird es sich am besten zeigen, wie wenig ihre grossen Schwankungen feste Grenzen zu ziehen erlauben, vorläufig aber sei es uns verstattet an einer Reihe von Thatsachen zu zeigen, dass die abgelegensten Völker und die äusserlich am wenigsten sich nahe stehenden Menschen- racen in ihren geistigen Regungen sich auf eine so überraschende Weise begegnen, dass wenigstens in Bezug auf das Denkvermögen 1) Pumpelly, Across America and Asia. London 1870. p. 256. 2) Tent-Life in Siberia. p. 218. 3) Latham, Varieties of Man. p. 77.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/40>, abgerufen am 26.04.2024.