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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830.

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Ich hatte gehofft, mein Wagen würde während
der Nacht anlangen, er ist aber bis jetzt noch nicht
hier, und ich benutzte daher die Muße, um die al-
terthümliche Stadt noch genauer zu besehen, als es
mir das erste mal möglich war. Sehr nützlich ist
mir dabei die Anleitung einer alten Chronik gewe-
sen, deren Fragmente ich zufällig, in einem Gewürz-
laden entdeckte, wo ich mich nach den cross bones
(die gekreuzten Knochen) erkundigte. Es steht näm-
lich in einem abgelegnen Winkel hier ein uraltes
Haus, über dessen Thüre man, in recht guter Ar-
beit, einen Todtenkopf über zwei gekreuzten Kno-
chen, in schwarzem Marmor ausgehauen, sieht.
Dieses Haus nennt man "the cross bones" und
Folgendes erzählt von ihm die tragische Geschichte.

Im 15. Jahrhundert war James Lynch, ein
Mann von alter Familie und großem Reichthum,
für seine Lebenszeit zum Maire von Gallway er-
wählt, damals eine Würde, die fast der eines Sou-
verains an Einfluß und Macht gleich kam. Er war
besonders angesehen und verehrt wegen seiner uner-
schütterlichen Gerechtigkeitsliebe, aber auch wegen
seiner Herablassung und milden Sitten. Doch be-
liebter noch, ja das Idol der Bürger, wie ihrer schö-
nen Frauen, war sein Sohn, der Chronik nach,
einer der ausgezeichnetesten jungen Männer seiner
Zeit. Mit vollendeter Schönheit, und dem edelsten


Ich hatte gehofft, mein Wagen würde während
der Nacht anlangen, er iſt aber bis jetzt noch nicht
hier, und ich benutzte daher die Muße, um die al-
terthümliche Stadt noch genauer zu beſehen, als es
mir das erſte mal möglich war. Sehr nützlich iſt
mir dabei die Anleitung einer alten Chronik gewe-
ſen, deren Fragmente ich zufällig, in einem Gewürz-
laden entdeckte, wo ich mich nach den cross bones
(die gekreuzten Knochen) erkundigte. Es ſteht näm-
lich in einem abgelegnen Winkel hier ein uraltes
Haus, über deſſen Thüre man, in recht guter Ar-
beit, einen Todtenkopf über zwei gekreuzten Kno-
chen, in ſchwarzem Marmor ausgehauen, ſieht.
Dieſes Haus nennt man „the cross bones“ und
Folgendes erzählt von ihm die tragiſche Geſchichte.

Im 15. Jahrhundert war James Lynch, ein
Mann von alter Familie und großem Reichthum,
für ſeine Lebenszeit zum Maire von Gallway er-
wählt, damals eine Würde, die faſt der eines Sou-
verains an Einfluß und Macht gleich kam. Er war
beſonders angeſehen und verehrt wegen ſeiner uner-
ſchütterlichen Gerechtigkeitsliebe, aber auch wegen
ſeiner Herablaſſung und milden Sitten. Doch be-
liebter noch, ja das Idol der Bürger, wie ihrer ſchö-
nen Frauen, war ſein Sohn, der Chronik nach,
einer der ausgezeichneteſten jungen Männer ſeiner
Zeit. Mit vollendeter Schönheit, und dem edelſten

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[268/0292] Den 20ſten früh. Ich hatte gehofft, mein Wagen würde während der Nacht anlangen, er iſt aber bis jetzt noch nicht hier, und ich benutzte daher die Muße, um die al- terthümliche Stadt noch genauer zu beſehen, als es mir das erſte mal möglich war. Sehr nützlich iſt mir dabei die Anleitung einer alten Chronik gewe- ſen, deren Fragmente ich zufällig, in einem Gewürz- laden entdeckte, wo ich mich nach den cross bones (die gekreuzten Knochen) erkundigte. Es ſteht näm- lich in einem abgelegnen Winkel hier ein uraltes Haus, über deſſen Thüre man, in recht guter Ar- beit, einen Todtenkopf über zwei gekreuzten Kno- chen, in ſchwarzem Marmor ausgehauen, ſieht. Dieſes Haus nennt man „the cross bones“ und Folgendes erzählt von ihm die tragiſche Geſchichte. Im 15. Jahrhundert war James Lynch, ein Mann von alter Familie und großem Reichthum, für ſeine Lebenszeit zum Maire von Gallway er- wählt, damals eine Würde, die faſt der eines Sou- verains an Einfluß und Macht gleich kam. Er war beſonders angeſehen und verehrt wegen ſeiner uner- ſchütterlichen Gerechtigkeitsliebe, aber auch wegen ſeiner Herablaſſung und milden Sitten. Doch be- liebter noch, ja das Idol der Bürger, wie ihrer ſchö- nen Frauen, war ſein Sohn, der Chronik nach, einer der ausgezeichneteſten jungen Männer ſeiner Zeit. Mit vollendeter Schönheit, und dem edelſten

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/292>, abgerufen am 19.03.2024.