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Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

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Des XVII. Hauptstücks. VII. Abschnitt.
35. §.

Soll ein Stück eine gute Wirkung thun; so muß es nicht nur in
dem ihm eigenen Zeitmaaße, sondern auch, vom Anfange bis zum En-
de, in einerley Tempo, nicht aber bald langsamer bald geschwinder ge-
spielet werden. Daß aber hierwider sehr oft gehandelt werde, zeiget die
tägliche Erfahrung. Langsamer oder geschwinder aufzuhören als man
angefangen hat, ist beydes ein Fehler: doch ist das letztere nicht so übel,
als das erstere. Jenes verursachet, absonderlich bey einem Adagio, daß
man oftmals nicht recht mehr begreifen kann, ob es im geraden oder un-
geraden Tacte gesetzet sey. Hierdurch nun verlischt die Melodie nach
und nach; und man höret, an deren statt, fast nichts als harmonische
Klänge. Dieses aber verursachet den Zuhörern nicht allein nur gar we-
nig Vergnügen; sondern es gereichet auch der Composition selbst über-
haupt zum größten Nachtheile, wenn nicht ein jedes Stück in seinem
gehörigen Tempo gespielet wird. Bisweilen liegt es an dem Concertisten:
wenn er entweder in einem geschwinden Stücke die leichten Passagien
übereilet, und alsdenn mit den schwerern nicht fortkommen kann; oder
wenn er in einem traurigen Stücke sich in den Affect so sehr vertiefet, daß
er darüber des Zeitmaaßes vergißt. Oftmals aber sind auch die Beglei-
ter an der Veränderung des Temposchuld; wenn sie entweder, nicht nur
in einem traurigen Stücke, sondern auch wohl in einem cantabeln An-
dante oder Allegretto, in eine Schläfrigkeit verfallen, und darüber dem
Concertisten zu viel nachgeben; oder wenn sie in einem geschwinden Stü-
cke in ein allzuheftiges Feuer gerathen, welches sie zum Eilen verleitet.
Einem guten Anführer, wenn er anders die gehörige Aufmerksamkeit hat,
wird es leicht seyn, alle diese Fehler zu vermeiden; und sowohl den Con-
certisten, wenn derselbe im Tacte nicht recht sicher ist, als auch die Ri-
pienisten, in Ordnung zu erhalten.

36. §.

Die Accompagnisten müssen aber nicht verlangen, daß der Concer-
tist sich in Ansehung der Geschwindigkeit oder Langsamkeit, in welcher er
das Tempo eines Stückes zu nehmem hat, nach ihnen richten solle: son-
dern sie müssen ihm völlige Freyheit gönnen, sein Tempo so zu fassen,
wie er es für gut befindet. Zu der Zeit sind sie nur Begleiter. Es wür-
de ein Zeichen eines unanständigen Bauernstolzes seyn, wenn zuweilen,
auch wohl gar einige von den letzten unter den Accompagnisten, sich der
Herrschaft über das Zeitmaaß anmaßen, und, zumal wenn sie nicht viel

Lust
Des XVII. Hauptſtuͤcks. VII. Abſchnitt.
35. §.

Soll ein Stuͤck eine gute Wirkung thun; ſo muß es nicht nur in
dem ihm eigenen Zeitmaaße, ſondern auch, vom Anfange bis zum En-
de, in einerley Tempo, nicht aber bald langſamer bald geſchwinder ge-
ſpielet werden. Daß aber hierwider ſehr oft gehandelt werde, zeiget die
taͤgliche Erfahrung. Langſamer oder geſchwinder aufzuhoͤren als man
angefangen hat, iſt beydes ein Fehler: doch iſt das letztere nicht ſo uͤbel,
als das erſtere. Jenes verurſachet, abſonderlich bey einem Adagio, daß
man oftmals nicht recht mehr begreifen kann, ob es im geraden oder un-
geraden Tacte geſetzet ſey. Hierdurch nun verliſcht die Melodie nach
und nach; und man hoͤret, an deren ſtatt, faſt nichts als harmoniſche
Klaͤnge. Dieſes aber verurſachet den Zuhoͤrern nicht allein nur gar we-
nig Vergnuͤgen; ſondern es gereichet auch der Compoſition ſelbſt uͤber-
haupt zum groͤßten Nachtheile, wenn nicht ein jedes Stuͤck in ſeinem
gehoͤrigen Tempo geſpielet wird. Bisweilen liegt es an dem Concertiſten:
wenn er entweder in einem geſchwinden Stuͤcke die leichten Paſſagien
uͤbereilet, und alsdenn mit den ſchwerern nicht fortkommen kann; oder
wenn er in einem traurigen Stuͤcke ſich in den Affect ſo ſehr vertiefet, daß
er daruͤber des Zeitmaaßes vergißt. Oftmals aber ſind auch die Beglei-
ter an der Veraͤnderung des Tempoſchuld; wenn ſie entweder, nicht nur
in einem traurigen Stuͤcke, ſondern auch wohl in einem cantabeln An-
dante oder Allegretto, in eine Schlaͤfrigkeit verfallen, und daruͤber dem
Concertiſten zu viel nachgeben; oder wenn ſie in einem geſchwinden Stuͤ-
cke in ein allzuheftiges Feuer gerathen, welches ſie zum Eilen verleitet.
Einem guten Anfuͤhrer, wenn er anders die gehoͤrige Aufmerkſamkeit hat,
wird es leicht ſeyn, alle dieſe Fehler zu vermeiden; und ſowohl den Con-
certiſten, wenn derſelbe im Tacte nicht recht ſicher iſt, als auch die Ri-
pieniſten, in Ordnung zu erhalten.

36. §.

Die Accompagniſten muͤſſen aber nicht verlangen, daß der Concer-
tiſt ſich in Anſehung der Geſchwindigkeit oder Langſamkeit, in welcher er
das Tempo eines Stuͤckes zu nehmem hat, nach ihnen richten ſolle: ſon-
dern ſie muͤſſen ihm voͤllige Freyheit goͤnnen, ſein Tempo ſo zu faſſen,
wie er es fuͤr gut befindet. Zu der Zeit ſind ſie nur Begleiter. Es wuͤr-
de ein Zeichen eines unanſtaͤndigen Bauernſtolzes ſeyn, wenn zuweilen,
auch wohl gar einige von den letzten unter den Accompagniſten, ſich der
Herrſchaft uͤber das Zeitmaaß anmaßen, und, zumal wenn ſie nicht viel

Luſt
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[256/0274] Des XVII. Hauptſtuͤcks. VII. Abſchnitt. 35. §. Soll ein Stuͤck eine gute Wirkung thun; ſo muß es nicht nur in dem ihm eigenen Zeitmaaße, ſondern auch, vom Anfange bis zum En- de, in einerley Tempo, nicht aber bald langſamer bald geſchwinder ge- ſpielet werden. Daß aber hierwider ſehr oft gehandelt werde, zeiget die taͤgliche Erfahrung. Langſamer oder geſchwinder aufzuhoͤren als man angefangen hat, iſt beydes ein Fehler: doch iſt das letztere nicht ſo uͤbel, als das erſtere. Jenes verurſachet, abſonderlich bey einem Adagio, daß man oftmals nicht recht mehr begreifen kann, ob es im geraden oder un- geraden Tacte geſetzet ſey. Hierdurch nun verliſcht die Melodie nach und nach; und man hoͤret, an deren ſtatt, faſt nichts als harmoniſche Klaͤnge. Dieſes aber verurſachet den Zuhoͤrern nicht allein nur gar we- nig Vergnuͤgen; ſondern es gereichet auch der Compoſition ſelbſt uͤber- haupt zum groͤßten Nachtheile, wenn nicht ein jedes Stuͤck in ſeinem gehoͤrigen Tempo geſpielet wird. Bisweilen liegt es an dem Concertiſten: wenn er entweder in einem geſchwinden Stuͤcke die leichten Paſſagien uͤbereilet, und alsdenn mit den ſchwerern nicht fortkommen kann; oder wenn er in einem traurigen Stuͤcke ſich in den Affect ſo ſehr vertiefet, daß er daruͤber des Zeitmaaßes vergißt. Oftmals aber ſind auch die Beglei- ter an der Veraͤnderung des Tempoſchuld; wenn ſie entweder, nicht nur in einem traurigen Stuͤcke, ſondern auch wohl in einem cantabeln An- dante oder Allegretto, in eine Schlaͤfrigkeit verfallen, und daruͤber dem Concertiſten zu viel nachgeben; oder wenn ſie in einem geſchwinden Stuͤ- cke in ein allzuheftiges Feuer gerathen, welches ſie zum Eilen verleitet. Einem guten Anfuͤhrer, wenn er anders die gehoͤrige Aufmerkſamkeit hat, wird es leicht ſeyn, alle dieſe Fehler zu vermeiden; und ſowohl den Con- certiſten, wenn derſelbe im Tacte nicht recht ſicher iſt, als auch die Ri- pieniſten, in Ordnung zu erhalten. 36. §. Die Accompagniſten muͤſſen aber nicht verlangen, daß der Concer- tiſt ſich in Anſehung der Geſchwindigkeit oder Langſamkeit, in welcher er das Tempo eines Stuͤckes zu nehmem hat, nach ihnen richten ſolle: ſon- dern ſie muͤſſen ihm voͤllige Freyheit goͤnnen, ſein Tempo ſo zu faſſen, wie er es fuͤr gut befindet. Zu der Zeit ſind ſie nur Begleiter. Es wuͤr- de ein Zeichen eines unanſtaͤndigen Bauernſtolzes ſeyn, wenn zuweilen, auch wohl gar einige von den letzten unter den Accompagniſten, ſich der Herrſchaft uͤber das Zeitmaaß anmaßen, und, zumal wenn ſie nicht viel Luſt

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Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/274>, abgerufen am 26.04.2024.