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Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

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und eine Musik zu beurtheilen sey.
Arie mit Action, welche auf dem Theater einen besondern Eindruck ge-
machet hat, wird in der Kammer bey Weitem nicht so gefallen, als auf
dem Theater: denn hier mangelt eines der wesentlichen Stücke derselben,
nämlich die Action, und die damit verbundenen Ursachen derselben: es
wäre denn, daß man durch Erinnerung dieser Dinge, sich noch eine leb-
hafte Vorstellung davon zu machen wüßte. Eine andere Arie hingegen,
deren Worte eben nichts besonders ausdrücken, die aber doch einen ge-
fälligen, und für den Sänger vortheilhaften Gesang in sich hat, auch
von demselben auf eine gute Art vorgetragen wird, ist vermögend, die
vorerwähnte Arie, in der Kammer, zu unterdrücken, und bey den Zu-
hörern einen Vorzug zu erhalten. Hierbey kann man nun wohl sagen,
daß die letztere mehr als die erstere gefalle; nicht aber daß sie deswegen
besser sey. Denn bey den Arien muß man nicht sowohl auf den Gesang
allein, als vielmehr auch auf die Worte, und derselben Ausdruck sehen.
Eine Arie mit starker Action muß über dieses mehr sprechend als singend
seyn, und erfodert folglich einen guten Sänger der zugleich ein guter
Acteur ist; wie nicht weniger auch einen erfahrenen Componisten.

27. §.

Wird aber eine Serenate oder Cantate ausdrücklich für die
Kammer gesetzet: so pfleget dieser Kammerstyl so wohl vom Kirchen- als
vom Theatralstyle unterschieden zu werden. Der Unterschied besteht dar-
inne, daß der Kammerstyl mehr Lebhaftigkeit und Freyheit der Gedan-
ken erfodert, als der Kirchenstyl; und weil keine Action dabey statt fin-
det, mehr Ausarbeitung und Kunst erlaubet, als der Theatralstyl. Die
Madrigale, welche, nach Art der Psalmen, mit vielen Singstim-
men, mehrentheils ohne Jnstrumente, arbeitsam ausgeführte Sing-
stücke sind, haben auch in der Kammer ihren Platz. Nichtweniger ge-
hören hierher die Duetten und Terzetten ohne Jnstrumente, und
die Solocantaten.

28. §.

Wenn man eine Jnstrumentalmusik recht beurtheilen will;
muß man nicht nur von den Eigenschaften eines jeden Stücks, welches
dabey vorkömmt, sondern auch von den Jnstrumenten selbst, wie schon
oben gesaget worden, eine genaue Kenntniß haben. Es kann ein Stück,
an und für sich, sowohl dem guten Geschmacke, als den Regeln der Com-
position gemäß, und also gut gesetzet seyn; dem Jnstrumente aber zuwi-
der laufen. Jm Gegentheile kann ein Stück dem Jnstrumente zwar ge-

mäß,
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und eine Muſik zu beurtheilen ſey.
Arie mit Action, welche auf dem Theater einen beſondern Eindruck ge-
machet hat, wird in der Kammer bey Weitem nicht ſo gefallen, als auf
dem Theater: denn hier mangelt eines der weſentlichen Stuͤcke derſelben,
naͤmlich die Action, und die damit verbundenen Urſachen derſelben: es
waͤre denn, daß man durch Erinnerung dieſer Dinge, ſich noch eine leb-
hafte Vorſtellung davon zu machen wuͤßte. Eine andere Arie hingegen,
deren Worte eben nichts beſonders ausdruͤcken, die aber doch einen ge-
faͤlligen, und fuͤr den Saͤnger vortheilhaften Geſang in ſich hat, auch
von demſelben auf eine gute Art vorgetragen wird, iſt vermoͤgend, die
vorerwaͤhnte Arie, in der Kammer, zu unterdruͤcken, und bey den Zu-
hoͤrern einen Vorzug zu erhalten. Hierbey kann man nun wohl ſagen,
daß die letztere mehr als die erſtere gefalle; nicht aber daß ſie deswegen
beſſer ſey. Denn bey den Arien muß man nicht ſowohl auf den Geſang
allein, als vielmehr auch auf die Worte, und derſelben Ausdruck ſehen.
Eine Arie mit ſtarker Action muß uͤber dieſes mehr ſprechend als ſingend
ſeyn, und erfodert folglich einen guten Saͤnger der zugleich ein guter
Acteur iſt; wie nicht weniger auch einen erfahrenen Componiſten.

27. §.

Wird aber eine Serenate oder Cantate ausdruͤcklich fuͤr die
Kammer geſetzet: ſo pfleget dieſer Kammerſtyl ſo wohl vom Kirchen- als
vom Theatralſtyle unterſchieden zu werden. Der Unterſchied beſteht dar-
inne, daß der Kammerſtyl mehr Lebhaftigkeit und Freyheit der Gedan-
ken erfodert, als der Kirchenſtyl; und weil keine Action dabey ſtatt fin-
det, mehr Ausarbeitung und Kunſt erlaubet, als der Theatralſtyl. Die
Madrigale, welche, nach Art der Pſalmen, mit vielen Singſtim-
men, mehrentheils ohne Jnſtrumente, arbeitſam ausgefuͤhrte Sing-
ſtuͤcke ſind, haben auch in der Kammer ihren Platz. Nichtweniger ge-
hoͤren hierher die Duetten und Terzetten ohne Jnſtrumente, und
die Solocantaten.

28. §.

Wenn man eine Jnſtrumentalmuſik recht beurtheilen will;
muß man nicht nur von den Eigenſchaften eines jeden Stuͤcks, welches
dabey vorkoͤmmt, ſondern auch von den Jnſtrumenten ſelbſt, wie ſchon
oben geſaget worden, eine genaue Kenntniß haben. Es kann ein Stuͤck,
an und fuͤr ſich, ſowohl dem guten Geſchmacke, als den Regeln der Com-
poſition gemaͤß, und alſo gut geſetzet ſeyn; dem Jnſtrumente aber zuwi-
der laufen. Jm Gegentheile kann ein Stuͤck dem Jnſtrumente zwar ge-

maͤß,
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[293/0311] und eine Muſik zu beurtheilen ſey. Arie mit Action, welche auf dem Theater einen beſondern Eindruck ge- machet hat, wird in der Kammer bey Weitem nicht ſo gefallen, als auf dem Theater: denn hier mangelt eines der weſentlichen Stuͤcke derſelben, naͤmlich die Action, und die damit verbundenen Urſachen derſelben: es waͤre denn, daß man durch Erinnerung dieſer Dinge, ſich noch eine leb- hafte Vorſtellung davon zu machen wuͤßte. Eine andere Arie hingegen, deren Worte eben nichts beſonders ausdruͤcken, die aber doch einen ge- faͤlligen, und fuͤr den Saͤnger vortheilhaften Geſang in ſich hat, auch von demſelben auf eine gute Art vorgetragen wird, iſt vermoͤgend, die vorerwaͤhnte Arie, in der Kammer, zu unterdruͤcken, und bey den Zu- hoͤrern einen Vorzug zu erhalten. Hierbey kann man nun wohl ſagen, daß die letztere mehr als die erſtere gefalle; nicht aber daß ſie deswegen beſſer ſey. Denn bey den Arien muß man nicht ſowohl auf den Geſang allein, als vielmehr auch auf die Worte, und derſelben Ausdruck ſehen. Eine Arie mit ſtarker Action muß uͤber dieſes mehr ſprechend als ſingend ſeyn, und erfodert folglich einen guten Saͤnger der zugleich ein guter Acteur iſt; wie nicht weniger auch einen erfahrenen Componiſten. 27. §. Wird aber eine Serenate oder Cantate ausdruͤcklich fuͤr die Kammer geſetzet: ſo pfleget dieſer Kammerſtyl ſo wohl vom Kirchen- als vom Theatralſtyle unterſchieden zu werden. Der Unterſchied beſteht dar- inne, daß der Kammerſtyl mehr Lebhaftigkeit und Freyheit der Gedan- ken erfodert, als der Kirchenſtyl; und weil keine Action dabey ſtatt fin- det, mehr Ausarbeitung und Kunſt erlaubet, als der Theatralſtyl. Die Madrigale, welche, nach Art der Pſalmen, mit vielen Singſtim- men, mehrentheils ohne Jnſtrumente, arbeitſam ausgefuͤhrte Sing- ſtuͤcke ſind, haben auch in der Kammer ihren Platz. Nichtweniger ge- hoͤren hierher die Duetten und Terzetten ohne Jnſtrumente, und die Solocantaten. 28. §. Wenn man eine Jnſtrumentalmuſik recht beurtheilen will; muß man nicht nur von den Eigenſchaften eines jeden Stuͤcks, welches dabey vorkoͤmmt, ſondern auch von den Jnſtrumenten ſelbſt, wie ſchon oben geſaget worden, eine genaue Kenntniß haben. Es kann ein Stuͤck, an und fuͤr ſich, ſowohl dem guten Geſchmacke, als den Regeln der Com- poſition gemaͤß, und alſo gut geſetzet ſeyn; dem Jnſtrumente aber zuwi- der laufen. Jm Gegentheile kann ein Stuͤck dem Jnſtrumente zwar ge- maͤß, O o 3

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Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/311>, abgerufen am 26.04.2024.