Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite
und eine Musik zu beurtheilen sey.
54. §.

Daß in den alten Zeiten, die Musik, so wie die andern schönen Wis-
senschaften, wenn wir nicht bis zu ihrem ersten Ursprunge zurück steigen
wollen, von den Griechen auf die Römer gekommen sey; daß sie ferner
nach dem Untergange der Pracht des alten Roms, lange Zeit fast im
Staube der Vergessenheit gelegen habe: ist gewiß. Welche Nation aber
zuerst wieder angefangen habe, die Musik dem Untergange zu entreissen,
und in ihrer erneuerten Gestalt wieder herzustellen: dieses ist vielem Strei-
te unterworfen. Es würde indessen, bey einer recht genauen und eigent-
lichen Untersuchung, der Ausspruch vermuthlich zum Vortheile der Jta-
liäner ausfallen müssen. Freylich ist eine lange Zeit dazu nöthig gewesen,
um die Musik zu derjenigen Annäherung der Vollkommenheit zu bringen,
worinne sie itzo steht. Es kann zu gewissen Zeiten diese, zu gewissen Zei-
ten aber eine andere Nation darinne etwas weiter fortgerücket, die an-
dere aber ihr wieder nachgefolget seyn. Kaiser Karl der Große schon, er-
kannte, bey seiner Anwesenheit in Rom, den welschen Tonkünstlern, zumal
in Ansehung der Singkunst, den Preiß zu; und ließ sogar deren viele
nach seinem Hofe kommen. Er bemühete sich seine Musik nach der Wel-
schen ihrer einzurichten.

55. §.

Man hat gegründete Ursache zu glauben, daß lange nach Kaiser
Karls des Großen Zeiten, die Musik, bey den Jtaliänern und Franzo-
sen, bey Weitem nicht so unterschieden gewesen sey, als itziger Zeit. Man
weis, das Lülly, welchen die Franzosen fast als einen musikalischen Be-
fehlshaber ansehen, und seinem Geschmacke noch bis itzo durch ganz Frank-
reich Beyfall geben, ja denselben, wenn etwan einige ihrer Landsleute
davon abgehen wollen, sorgfältig wieder herzustellen, und ungeändert im
Schwange zu erhalten bemühet sind, ein Welscher gewesen ist. Jch will
zugeben, daß dieser berühmte Mann, weil er sehr jung nach Frankreich
gekommen ist, sich der vorigen französischen Musik einiger maßen beque-
met, und ihren Geschmack angenommen habe. Niemand wird aber dar-
thun können, daß es ihm möglich gewesen sey, den seiner Nation eigen-
thümlichen Geschmack, wovon er doch schon etwas in Welschland begrif-
fen hatte, oder zum wenigsten sein Genie, gänzlich zu verläugnen. Al-
les wird darauf hinaus laufen, daß er den Geschmack der einen Nation
mit der andern ihrem vermischet habe. Da aber seit Lüllys Tode, der
Geschmack in der Musik, wie jedermann bekannt ist, bey den Jtaliänern

sich
Q q 2
und eine Muſik zu beurtheilen ſey.
54. §.

Daß in den alten Zeiten, die Muſik, ſo wie die andern ſchoͤnen Wiſ-
ſenſchaften, wenn wir nicht bis zu ihrem erſten Urſprunge zuruͤck ſteigen
wollen, von den Griechen auf die Roͤmer gekommen ſey; daß ſie ferner
nach dem Untergange der Pracht des alten Roms, lange Zeit faſt im
Staube der Vergeſſenheit gelegen habe: iſt gewiß. Welche Nation aber
zuerſt wieder angefangen habe, die Muſik dem Untergange zu entreiſſen,
und in ihrer erneuerten Geſtalt wieder herzuſtellen: dieſes iſt vielem Strei-
te unterworfen. Es wuͤrde indeſſen, bey einer recht genauen und eigent-
lichen Unterſuchung, der Ausſpruch vermuthlich zum Vortheile der Jta-
liaͤner ausfallen muͤſſen. Freylich iſt eine lange Zeit dazu noͤthig geweſen,
um die Muſik zu derjenigen Annaͤherung der Vollkommenheit zu bringen,
worinne ſie itzo ſteht. Es kann zu gewiſſen Zeiten dieſe, zu gewiſſen Zei-
ten aber eine andere Nation darinne etwas weiter fortgeruͤcket, die an-
dere aber ihr wieder nachgefolget ſeyn. Kaiſer Karl der Große ſchon, er-
kannte, bey ſeiner Anweſenheit in Rom, den welſchen Tonkuͤnſtlern, zumal
in Anſehung der Singkunſt, den Preiß zu; und ließ ſogar deren viele
nach ſeinem Hofe kommen. Er bemuͤhete ſich ſeine Muſik nach der Wel-
ſchen ihrer einzurichten.

55. §.

Man hat gegruͤndete Urſache zu glauben, daß lange nach Kaiſer
Karls des Großen Zeiten, die Muſik, bey den Jtaliaͤnern und Franzo-
ſen, bey Weitem nicht ſo unterſchieden geweſen ſey, als itziger Zeit. Man
weis, das Luͤlly, welchen die Franzoſen faſt als einen muſikaliſchen Be-
fehlshaber anſehen, und ſeinem Geſchmacke noch bis itzo durch ganz Frank-
reich Beyfall geben, ja denſelben, wenn etwan einige ihrer Landsleute
davon abgehen wollen, ſorgfaͤltig wieder herzuſtellen, und ungeaͤndert im
Schwange zu erhalten bemuͤhet ſind, ein Welſcher geweſen iſt. Jch will
zugeben, daß dieſer beruͤhmte Mann, weil er ſehr jung nach Frankreich
gekommen iſt, ſich der vorigen franzoͤſiſchen Muſik einiger maßen beque-
met, und ihren Geſchmack angenommen habe. Niemand wird aber dar-
thun koͤnnen, daß es ihm moͤglich geweſen ſey, den ſeiner Nation eigen-
thuͤmlichen Geſchmack, wovon er doch ſchon etwas in Welſchland begrif-
fen hatte, oder zum wenigſten ſein Genie, gaͤnzlich zu verlaͤugnen. Al-
les wird darauf hinaus laufen, daß er den Geſchmack der einen Nation
mit der andern ihrem vermiſchet habe. Da aber ſeit Luͤllys Tode, der
Geſchmack in der Muſik, wie jedermann bekannt iſt, bey den Jtaliaͤnern

ſich
Q q 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0325" n="307"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">und eine Mu&#x017F;ik zu beurtheilen &#x017F;ey.</hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>54. §.</head><lb/>
            <p>Daß in den alten Zeiten, die Mu&#x017F;ik, &#x017F;o wie die andern &#x017F;cho&#x0364;nen Wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaften, wenn wir nicht bis zu ihrem er&#x017F;ten Ur&#x017F;prunge zuru&#x0364;ck &#x017F;teigen<lb/>
wollen, von den Griechen auf die Ro&#x0364;mer gekommen &#x017F;ey; daß &#x017F;ie ferner<lb/>
nach dem Untergange der Pracht des alten Roms, lange Zeit fa&#x017F;t im<lb/>
Staube der Verge&#x017F;&#x017F;enheit gelegen habe: i&#x017F;t gewiß. Welche Nation aber<lb/>
zuer&#x017F;t wieder angefangen habe, die Mu&#x017F;ik dem Untergange zu entrei&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und in ihrer erneuerten Ge&#x017F;talt wieder herzu&#x017F;tellen: die&#x017F;es i&#x017F;t vielem Strei-<lb/>
te unterworfen. Es wu&#x0364;rde inde&#x017F;&#x017F;en, bey einer recht genauen und eigent-<lb/>
lichen Unter&#x017F;uchung, der Aus&#x017F;pruch vermuthlich zum Vortheile der Jta-<lb/>
lia&#x0364;ner ausfallen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Freylich i&#x017F;t eine lange Zeit dazu no&#x0364;thig gewe&#x017F;en,<lb/>
um die Mu&#x017F;ik zu derjenigen Anna&#x0364;herung der Vollkommenheit zu bringen,<lb/>
worinne &#x017F;ie itzo &#x017F;teht. Es kann zu gewi&#x017F;&#x017F;en Zeiten die&#x017F;e, zu gewi&#x017F;&#x017F;en Zei-<lb/>
ten aber eine andere Nation darinne etwas weiter fortgeru&#x0364;cket, die an-<lb/>
dere aber ihr wieder nachgefolget &#x017F;eyn. Kai&#x017F;er Karl der Große &#x017F;chon, er-<lb/>
kannte, bey &#x017F;einer Anwe&#x017F;enheit in Rom, den wel&#x017F;chen Tonku&#x0364;n&#x017F;tlern, zumal<lb/>
in An&#x017F;ehung der Singkun&#x017F;t, den Preiß zu; und ließ &#x017F;ogar deren viele<lb/>
nach &#x017F;einem Hofe kommen. Er bemu&#x0364;hete &#x017F;ich &#x017F;eine Mu&#x017F;ik nach der Wel-<lb/>
&#x017F;chen ihrer einzurichten.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>55. §.</head><lb/>
            <p>Man hat gegru&#x0364;ndete Ur&#x017F;ache zu glauben, daß lange nach Kai&#x017F;er<lb/>
Karls des Großen Zeiten, die Mu&#x017F;ik, bey den Jtalia&#x0364;nern und Franzo-<lb/>
&#x017F;en, bey Weitem nicht &#x017F;o unter&#x017F;chieden gewe&#x017F;en &#x017F;ey, als itziger Zeit. Man<lb/>
weis, das <hi rendition="#fr">Lu&#x0364;lly,</hi> welchen die Franzo&#x017F;en fa&#x017F;t als einen mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Be-<lb/>
fehlshaber an&#x017F;ehen, und &#x017F;einem Ge&#x017F;chmacke noch bis itzo durch ganz Frank-<lb/>
reich Beyfall geben, ja den&#x017F;elben, wenn etwan einige ihrer Landsleute<lb/>
davon abgehen wollen, &#x017F;orgfa&#x0364;ltig wieder herzu&#x017F;tellen, und ungea&#x0364;ndert im<lb/>
Schwange zu erhalten bemu&#x0364;het &#x017F;ind, ein Wel&#x017F;cher gewe&#x017F;en i&#x017F;t. Jch will<lb/>
zugeben, daß die&#x017F;er beru&#x0364;hmte Mann, weil er &#x017F;ehr jung nach Frankreich<lb/>
gekommen i&#x017F;t, &#x017F;ich der vorigen franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Mu&#x017F;ik einiger maßen beque-<lb/>
met, und ihren Ge&#x017F;chmack angenommen habe. Niemand wird aber dar-<lb/>
thun ko&#x0364;nnen, daß es ihm mo&#x0364;glich gewe&#x017F;en &#x017F;ey, den &#x017F;einer Nation eigen-<lb/>
thu&#x0364;mlichen Ge&#x017F;chmack, wovon er doch &#x017F;chon etwas in Wel&#x017F;chland begrif-<lb/>
fen hatte, oder zum wenig&#x017F;ten &#x017F;ein Genie, ga&#x0364;nzlich zu verla&#x0364;ugnen. Al-<lb/>
les wird darauf hinaus laufen, daß er den Ge&#x017F;chmack der einen Nation<lb/>
mit der andern ihrem vermi&#x017F;chet habe. Da aber &#x017F;eit <hi rendition="#fr">Lu&#x0364;llys</hi> Tode, der<lb/>
Ge&#x017F;chmack in der Mu&#x017F;ik, wie jedermann bekannt i&#x017F;t, bey den Jtalia&#x0364;nern<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Q q 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[307/0325] und eine Muſik zu beurtheilen ſey. 54. §. Daß in den alten Zeiten, die Muſik, ſo wie die andern ſchoͤnen Wiſ- ſenſchaften, wenn wir nicht bis zu ihrem erſten Urſprunge zuruͤck ſteigen wollen, von den Griechen auf die Roͤmer gekommen ſey; daß ſie ferner nach dem Untergange der Pracht des alten Roms, lange Zeit faſt im Staube der Vergeſſenheit gelegen habe: iſt gewiß. Welche Nation aber zuerſt wieder angefangen habe, die Muſik dem Untergange zu entreiſſen, und in ihrer erneuerten Geſtalt wieder herzuſtellen: dieſes iſt vielem Strei- te unterworfen. Es wuͤrde indeſſen, bey einer recht genauen und eigent- lichen Unterſuchung, der Ausſpruch vermuthlich zum Vortheile der Jta- liaͤner ausfallen muͤſſen. Freylich iſt eine lange Zeit dazu noͤthig geweſen, um die Muſik zu derjenigen Annaͤherung der Vollkommenheit zu bringen, worinne ſie itzo ſteht. Es kann zu gewiſſen Zeiten dieſe, zu gewiſſen Zei- ten aber eine andere Nation darinne etwas weiter fortgeruͤcket, die an- dere aber ihr wieder nachgefolget ſeyn. Kaiſer Karl der Große ſchon, er- kannte, bey ſeiner Anweſenheit in Rom, den welſchen Tonkuͤnſtlern, zumal in Anſehung der Singkunſt, den Preiß zu; und ließ ſogar deren viele nach ſeinem Hofe kommen. Er bemuͤhete ſich ſeine Muſik nach der Wel- ſchen ihrer einzurichten. 55. §. Man hat gegruͤndete Urſache zu glauben, daß lange nach Kaiſer Karls des Großen Zeiten, die Muſik, bey den Jtaliaͤnern und Franzo- ſen, bey Weitem nicht ſo unterſchieden geweſen ſey, als itziger Zeit. Man weis, das Luͤlly, welchen die Franzoſen faſt als einen muſikaliſchen Be- fehlshaber anſehen, und ſeinem Geſchmacke noch bis itzo durch ganz Frank- reich Beyfall geben, ja denſelben, wenn etwan einige ihrer Landsleute davon abgehen wollen, ſorgfaͤltig wieder herzuſtellen, und ungeaͤndert im Schwange zu erhalten bemuͤhet ſind, ein Welſcher geweſen iſt. Jch will zugeben, daß dieſer beruͤhmte Mann, weil er ſehr jung nach Frankreich gekommen iſt, ſich der vorigen franzoͤſiſchen Muſik einiger maßen beque- met, und ihren Geſchmack angenommen habe. Niemand wird aber dar- thun koͤnnen, daß es ihm moͤglich geweſen ſey, den ſeiner Nation eigen- thuͤmlichen Geſchmack, wovon er doch ſchon etwas in Welſchland begrif- fen hatte, oder zum wenigſten ſein Genie, gaͤnzlich zu verlaͤugnen. Al- les wird darauf hinaus laufen, daß er den Geſchmack der einen Nation mit der andern ihrem vermiſchet habe. Da aber ſeit Luͤllys Tode, der Geſchmack in der Muſik, wie jedermann bekannt iſt, bey den Jtaliaͤnern ſich Q q 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/325
Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/325>, abgerufen am 26.04.2024.