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Quenstedt, Friedrich August: Handbuch der Mineralogie. Tübingen, 1855.

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Vorrede.
um die Sinne dadurch zu schärfen, ein möglichst treues naturhistorisches
Bild selbstständig auffassen zu lernen. Erst dadurch wird die Mineralogie
zur besten Lehrmeisterin für die Beobachtungskunst überhaupt. Sie ist
die nothwendige Schule, in welcher sämmtliche anorganische Körper zum
weiteren Experiment geistig vorbereitet werden, ja man sieht es selbst
den tüchtigsten chemischen und physikalischen Versuchen nicht selten zu ihrem
Nachtheil gar zu deutlich an, wenn diese Vorschule nicht durchgemacht ist.
Dabei kommt es nicht auf ein minutiöses Mehr oder Weniger in dem
Abwägen der Eigenschaften an, sondern vielmehr auf die ganze Art des
Totaleindrucks. Die Eindrücke berühren uns aber nicht, wenn wir ihren
Werth nicht vorher tüchtig würdigen gelernt haben: so kann der Schimmer
an irgend einem Punkte des Krystalls, das Dunkel- oder Hellwerden bei
der Wendung einer Fläche etc. augenblicklich auf die richtige Spur leiten,
während alle andern Hilfsmittel, wenn auch die Exactität ihrer Aus-
führung noch so glänzend erscheint, höchstens auf Umwegen dahin führen.
Es ist wahrlich kein geringer Vortheil, sogleich beim bloßen Anschauen
eines Körpers, um die Möglichkeiten den engsten Kreis ziehen zu können.
Aber das ist die Aufgabe der Mineralogie, die sie bereits mit vielem
Glück gelöst hat.

3) Die krystallographischen Hilfsmittel dürfen gerade
keine tieferen mathematischen Kenntnisse erfordern, die
Zonenlehre und ein schnelles Winkelmessen mit dem
Handgoniometer müssen in den meisten Fällen ausreichen
.

Die Krystallographie könnte man eine verkörperte Mathematik nennen.
Aber sie ist ohne Leben, wenn sie nicht über die verknöcherten Symbole
hinausgeht, und zur Zonenlehre fortschreitet. Die Zonenlehre an der
Hand der Projection gibt uns allein das tiefere Verständniß. Das ist
eine so einfache Wahrheit, daß es verwundert, warum sie so lange um
ihre allgemeine Anerkennung ringen muß. Es bedarf dabei nicht jener
übermäßigen Genauigkeit im Winkelmessen, die vielen Arbeiten den Schein
von Gründlichkeit gibt, sondern Augenmaß und Anschauung reichen hin,
aber nur dann, wenn der Beobachter die für Manchen allerdings harte
Uebungsschule einer gründlichen Projektionslehre durchgemacht hat. Die
dadurch erworbene Fertigkeit im Erkennen der Krystalle ist der Segen,
welcher die darauf verwendete Mühe reichlich lohnt. Und wenn überhaupt
das Bewußtsein, eine Wissenschaft ergründet zu haben, den Geist erhebt
und veredelt, so läuft hier noch ein practisches Interesse neben her. Denn
es wird mit jedem Jahre klarer, daß nicht blos der chemische Gehalt,

Vorrede.
um die Sinne dadurch zu ſchärfen, ein möglichſt treues naturhiſtoriſches
Bild ſelbſtſtändig auffaſſen zu lernen. Erſt dadurch wird die Mineralogie
zur beſten Lehrmeiſterin für die Beobachtungskunſt überhaupt. Sie iſt
die nothwendige Schule, in welcher ſämmtliche anorganiſche Körper zum
weiteren Experiment geiſtig vorbereitet werden, ja man ſieht es ſelbſt
den tüchtigſten chemiſchen und phyſikaliſchen Verſuchen nicht ſelten zu ihrem
Nachtheil gar zu deutlich an, wenn dieſe Vorſchule nicht durchgemacht iſt.
Dabei kommt es nicht auf ein minutiöſes Mehr oder Weniger in dem
Abwägen der Eigenſchaften an, ſondern vielmehr auf die ganze Art des
Totaleindrucks. Die Eindrücke berühren uns aber nicht, wenn wir ihren
Werth nicht vorher tüchtig würdigen gelernt haben: ſo kann der Schimmer
an irgend einem Punkte des Kryſtalls, das Dunkel- oder Hellwerden bei
der Wendung einer Fläche ꝛc. augenblicklich auf die richtige Spur leiten,
während alle andern Hilfsmittel, wenn auch die Exactität ihrer Aus-
führung noch ſo glänzend erſcheint, höchſtens auf Umwegen dahin führen.
Es iſt wahrlich kein geringer Vortheil, ſogleich beim bloßen Anſchauen
eines Körpers, um die Möglichkeiten den engſten Kreis ziehen zu können.
Aber das iſt die Aufgabe der Mineralogie, die ſie bereits mit vielem
Glück gelöst hat.

3) Die kryſtallographiſchen Hilfsmittel dürfen gerade
keine tieferen mathematiſchen Kenntniſſe erfordern, die
Zonenlehre und ein ſchnelles Winkelmeſſen mit dem
Handgoniometer müſſen in den meiſten Fällen ausreichen
.

Die Kryſtallographie könnte man eine verkörperte Mathematik nennen.
Aber ſie iſt ohne Leben, wenn ſie nicht über die verknöcherten Symbole
hinausgeht, und zur Zonenlehre fortſchreitet. Die Zonenlehre an der
Hand der Projection gibt uns allein das tiefere Verſtändniß. Das iſt
eine ſo einfache Wahrheit, daß es verwundert, warum ſie ſo lange um
ihre allgemeine Anerkennung ringen muß. Es bedarf dabei nicht jener
übermäßigen Genauigkeit im Winkelmeſſen, die vielen Arbeiten den Schein
von Gründlichkeit gibt, ſondern Augenmaß und Anſchauung reichen hin,
aber nur dann, wenn der Beobachter die für Manchen allerdings harte
Uebungsſchule einer gründlichen Projektionslehre durchgemacht hat. Die
dadurch erworbene Fertigkeit im Erkennen der Kryſtalle iſt der Segen,
welcher die darauf verwendete Mühe reichlich lohnt. Und wenn überhaupt
das Bewußtſein, eine Wiſſenſchaft ergründet zu haben, den Geiſt erhebt
und veredelt, ſo läuft hier noch ein practiſches Intereſſe neben her. Denn
es wird mit jedem Jahre klarer, daß nicht blos der chemiſche Gehalt,

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Zitationshilfe: Quenstedt, Friedrich August: Handbuch der Mineralogie. Tübingen, 1855, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quenstedt_mineralogie_1854/11>, abgerufen am 26.04.2024.