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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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Der Tod hatte seine finstere kalte Hand trennend
auf ein glückliches Zusammenleben gelegt; der kleine
Stuhl dort unter dem Epheugitter auf dem Fenstertritt
vor dem Nähtischchen war leer geworden.

Marie Ralff war todt! -- -- -- --

Ich sah von meinem Fenster aus hier eine Gestalt
im Zimmer auf und ab gehen. Armer Franz! Armes
kleines Kind! Armer -- Johannes! -- Sie war so
lieblich, so jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen
im Arm! --

Da hängt im Museum der Stadt ein kleines Ma-
donnenbild, wo die "Unberührbare" den auf ihrem
Schooß stehenden kleinen Jesus gar liebend-verwundert
und mütterlichstolz betrachtet. Dem Bilde glich sie,
die eben so blondlockig, eben so heilig, eben so schön
war, und oft genug bleibe ich vor diesem Bilde, einem
Werk des spanischen Meisters Morales, den seine Zeit-
genossen el divino nannten, stehen, alter vergangener
schöner Zeit gedenkend.

O, ich liebte sie so, ich hatte so gelitten, als sie mich
nur "Freund" und ihn meinen Freund Franz Ralff "Ge-
liebter" nannte. Und jetzt war sie todt; einsam hatte
sie uns zurückgelassen! Der Abend sank tiefer herab
und die Dämmerung legte sich zwischen mich und das
Drüben. Ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte hin-

Der Tod hatte ſeine finſtere kalte Hand trennend
auf ein glückliches Zuſammenleben gelegt; der kleine
Stuhl dort unter dem Epheugitter auf dem Fenſtertritt
vor dem Nähtiſchchen war leer geworden.

Marie Ralff war todt! — — — —

Ich ſah von meinem Fenſter aus hier eine Geſtalt
im Zimmer auf und ab gehen. Armer Franz! Armes
kleines Kind! Armer — Johannes! — Sie war ſo
lieblich, ſo jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen
im Arm! —

Da hängt im Muſeum der Stadt ein kleines Ma-
donnenbild, wo die „Unberührbare“ den auf ihrem
Schooß ſtehenden kleinen Jeſus gar liebend-verwundert
und mütterlichſtolz betrachtet. Dem Bilde glich ſie,
die eben ſo blondlockig, eben ſo heilig, eben ſo ſchön
war, und oft genug bleibe ich vor dieſem Bilde, einem
Werk des ſpaniſchen Meiſters Morales, den ſeine Zeit-
genoſſen el divino nannten, ſtehen, alter vergangener
ſchöner Zeit gedenkend.

O, ich liebte ſie ſo, ich hatte ſo gelitten, als ſie mich
nur „Freund“ und ihn meinen Freund Franz Ralff „Ge-
liebter“ nannte. Und jetzt war ſie todt; einſam hatte
ſie uns zurückgelaſſen! Der Abend ſank tiefer herab
und die Dämmerung legte ſich zwiſchen mich und das
Drüben. Ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte hin-

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[25/0035] Der Tod hatte ſeine finſtere kalte Hand trennend auf ein glückliches Zuſammenleben gelegt; der kleine Stuhl dort unter dem Epheugitter auf dem Fenſtertritt vor dem Nähtiſchchen war leer geworden. Marie Ralff war todt! — — — — Ich ſah von meinem Fenſter aus hier eine Geſtalt im Zimmer auf und ab gehen. Armer Franz! Armes kleines Kind! Armer — Johannes! — Sie war ſo lieblich, ſo jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen im Arm! — Da hängt im Muſeum der Stadt ein kleines Ma- donnenbild, wo die „Unberührbare“ den auf ihrem Schooß ſtehenden kleinen Jeſus gar liebend-verwundert und mütterlichſtolz betrachtet. Dem Bilde glich ſie, die eben ſo blondlockig, eben ſo heilig, eben ſo ſchön war, und oft genug bleibe ich vor dieſem Bilde, einem Werk des ſpaniſchen Meiſters Morales, den ſeine Zeit- genoſſen el divino nannten, ſtehen, alter vergangener ſchöner Zeit gedenkend. O, ich liebte ſie ſo, ich hatte ſo gelitten, als ſie mich nur „Freund“ und ihn meinen Freund Franz Ralff „Ge- liebter“ nannte. Und jetzt war ſie todt; einſam hatte ſie uns zurückgelaſſen! Der Abend ſank tiefer herab und die Dämmerung legte ſich zwiſchen mich und das Drüben. Ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte hin-

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/35>, abgerufen am 26.04.2024.