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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.

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Unruhen in Wittenberg.
brach und sich gegen Luther erklärte, glaubte sich Melanch-
thon nicht nur verpflichtet für seinen abwesenden Freund
das Wort zu nehmen, ihn zu vertheidigen, sondern er wagte
es, der Universität zu Paris, von der alle theologischen
Doctrinen ausgegangen, von der die deutschen Universitä-
ten selbst sich nur abgezweigt, auf deren Entscheidung die
Welt von jeher gehorcht, der alma mater, die Anklage
zurückzugeben die sie erhob, sie selbst des Abfalls von dem
wahren Christenthum zu beschuldigen. Er trug kein Be-
denken, die ganze auf den Universitäten herrschende Lehre,
die Scholastik überhaupt, dem Inhalt der Schrift gegen-
über, für abgewichen für ketzerisch zu erklären. 1 Die höch-
sten Gewalten der Christenheit hatten gesprochen; der Papst
hatte eine verdammende Bulle erlassen; die große Mutter-
Universität unterstützte seinen Ausspruch mit dem ihren;
der Kaiser hatte befohlen ihn zu vollziehen; in dem kleinen,
vor wenig Jahren kaum genannten Wittenberg wagte ein
junger Professor der noch im Anfang der zwanziger Jahre
stand, in dessen unscheinbarer Gestalt und bescheidner Hal-
tung Niemand Heldenmuth oder Kühnheit gesucht hätte,
sich allen diesen Gewalten entgegenzustellen: die verdamm-
ten Lehren zu vertheidigen, ja den Ruhm christlich zu seyn
für sie allein in Anspruch zu nehmen.

Das machte wohl auch: man beurtheilte die Sachen
nicht nach dem grandiosen Anschein den sie trugen: man
wußte, welche Motive namentlich dominicanischer Einwir-
kung den römischen Hof bestimmt hatten, mit welchen Mit-

1 Adversus furiosum Parisiensium theologastrorum decre-
tum Phil. Melanchthonis pro Luthero apologia. Corp. reforma-
torum I, p.
398.

Unruhen in Wittenberg.
brach und ſich gegen Luther erklärte, glaubte ſich Melanch-
thon nicht nur verpflichtet für ſeinen abweſenden Freund
das Wort zu nehmen, ihn zu vertheidigen, ſondern er wagte
es, der Univerſität zu Paris, von der alle theologiſchen
Doctrinen ausgegangen, von der die deutſchen Univerſitä-
ten ſelbſt ſich nur abgezweigt, auf deren Entſcheidung die
Welt von jeher gehorcht, der alma mater, die Anklage
zurückzugeben die ſie erhob, ſie ſelbſt des Abfalls von dem
wahren Chriſtenthum zu beſchuldigen. Er trug kein Be-
denken, die ganze auf den Univerſitäten herrſchende Lehre,
die Scholaſtik überhaupt, dem Inhalt der Schrift gegen-
über, für abgewichen für ketzeriſch zu erklären. 1 Die höch-
ſten Gewalten der Chriſtenheit hatten geſprochen; der Papſt
hatte eine verdammende Bulle erlaſſen; die große Mutter-
Univerſität unterſtützte ſeinen Ausſpruch mit dem ihren;
der Kaiſer hatte befohlen ihn zu vollziehen; in dem kleinen,
vor wenig Jahren kaum genannten Wittenberg wagte ein
junger Profeſſor der noch im Anfang der zwanziger Jahre
ſtand, in deſſen unſcheinbarer Geſtalt und beſcheidner Hal-
tung Niemand Heldenmuth oder Kühnheit geſucht hätte,
ſich allen dieſen Gewalten entgegenzuſtellen: die verdamm-
ten Lehren zu vertheidigen, ja den Ruhm chriſtlich zu ſeyn
für ſie allein in Anſpruch zu nehmen.

Das machte wohl auch: man beurtheilte die Sachen
nicht nach dem grandioſen Anſchein den ſie trugen: man
wußte, welche Motive namentlich dominicaniſcher Einwir-
kung den römiſchen Hof beſtimmt hatten, mit welchen Mit-

1 Adversus furiosum Parisiensium theologastrorum decre-
tum Phil. Melanchthonis pro Luthero apologia. Corp. reforma-
torum I, p.
398.
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[11/0021] Unruhen in Wittenberg. brach und ſich gegen Luther erklärte, glaubte ſich Melanch- thon nicht nur verpflichtet für ſeinen abweſenden Freund das Wort zu nehmen, ihn zu vertheidigen, ſondern er wagte es, der Univerſität zu Paris, von der alle theologiſchen Doctrinen ausgegangen, von der die deutſchen Univerſitä- ten ſelbſt ſich nur abgezweigt, auf deren Entſcheidung die Welt von jeher gehorcht, der alma mater, die Anklage zurückzugeben die ſie erhob, ſie ſelbſt des Abfalls von dem wahren Chriſtenthum zu beſchuldigen. Er trug kein Be- denken, die ganze auf den Univerſitäten herrſchende Lehre, die Scholaſtik überhaupt, dem Inhalt der Schrift gegen- über, für abgewichen für ketzeriſch zu erklären. 1 Die höch- ſten Gewalten der Chriſtenheit hatten geſprochen; der Papſt hatte eine verdammende Bulle erlaſſen; die große Mutter- Univerſität unterſtützte ſeinen Ausſpruch mit dem ihren; der Kaiſer hatte befohlen ihn zu vollziehen; in dem kleinen, vor wenig Jahren kaum genannten Wittenberg wagte ein junger Profeſſor der noch im Anfang der zwanziger Jahre ſtand, in deſſen unſcheinbarer Geſtalt und beſcheidner Hal- tung Niemand Heldenmuth oder Kühnheit geſucht hätte, ſich allen dieſen Gewalten entgegenzuſtellen: die verdamm- ten Lehren zu vertheidigen, ja den Ruhm chriſtlich zu ſeyn für ſie allein in Anſpruch zu nehmen. Das machte wohl auch: man beurtheilte die Sachen nicht nach dem grandioſen Anſchein den ſie trugen: man wußte, welche Motive namentlich dominicaniſcher Einwir- kung den römiſchen Hof beſtimmt hatten, mit welchen Mit- 1 Adversus furiosum Parisiensium theologastrorum decre- tum Phil. Melanchthonis pro Luthero apologia. Corp. reforma- torum I, p. 398.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/21>, abgerufen am 26.04.2024.