Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Seite gestellt werden. Beide Methoden bieten sich
schwesterlich die Hand. Das angegriffene Gehirn
bekömmt zuweilen seinen Ton von selbst wieder,
wenn seine stürmischen Bewegungen gedämpft sind;
oder der Geist kehrt durch sich zur Ordnung zu-
rück, wenn der körperliche Reiz beseitiget ist,
der sein Organ ohne Nachlass peinigte. Wenn
auch die Kranken zu saftreich oder zu blutarm,
zu stumpf oder zu reizbar sind, oder ihr Gehirn
mittelbar oder unmittelbar von fremden Körper-
Reizen afficirt wird und sie daher vorzüglich
der körperlichen Curmethode bedürfen, so wird
dieselbe doch, selbst in diesem Fall, da sie sich
nie auf die Geisteszerrüttungen selbst, sondern
bloss auf ihre Anlagen und Gelegenheiten bezieht,
ungemein durch eine zweckmässige psychische Be-
handlung gefördert werden. Es ist sogar nicht
unmöglich, dass Kranke mit unheilbaren Des-
organisationen, in und ausser dem Gehirn, durch
psychische Curen von ihrem Wahnsinn geheilt
werden können. Diese sind nemlich nicht die
Krankheit (zureichende Ursache der Symp-
tome), sondern nur Veranlassung zu ihrer Ent-
stehung. Ein zerstörter Gehirntheil ist kein Ge-
hirn mehr, also auch nicht mehr im Stande, des-
sen normale oder abnorme Funktion auszuüben,
d. h. Vorstellungen zu erzeugen. Der Wahnsinn
hat in diesem Fall nicht in den zerstörten, son-
dern in den scheinbar unverletzten Theilen des
Gehirns seinen Sitz. Daher werden auch häufig

Seite geſtellt werden. Beide Methoden bieten ſich
ſchweſterlich die Hand. Das angegriffene Gehirn
bekömmt zuweilen ſeinen Ton von ſelbſt wieder,
wenn ſeine ſtürmiſchen Bewegungen gedämpft ſind;
oder der Geiſt kehrt durch ſich zur Ordnung zu-
rück, wenn der körperliche Reiz beſeitiget iſt,
der ſein Organ ohne Nachlaſs peinigte. Wenn
auch die Kranken zu ſaftreich oder zu blutarm,
zu ſtumpf oder zu reizbar ſind, oder ihr Gehirn
mittelbar oder unmittelbar von fremden Körper-
Reizen afficirt wird und ſie daher vorzüglich
der körperlichen Curmethode bedürfen, ſo wird
dieſelbe doch, ſelbſt in dieſem Fall, da ſie ſich
nie auf die Geiſteszerrüttungen ſelbſt, ſondern
bloſs auf ihre Anlagen und Gelegenheiten bezieht,
ungemein durch eine zweckmäſsige pſychiſche Be-
handlung gefördert werden. Es iſt ſogar nicht
unmöglich, daſs Kranke mit unheilbaren Des-
organiſationen, in und auſser dem Gehirn, durch
pſychiſche Curen von ihrem Wahnſinn geheilt
werden können. Dieſe ſind nemlich nicht die
Krankheit (zureichende Urſache der Symp-
tome), ſondern nur Veranlaſſung zu ihrer Ent-
ſtehung. Ein zerſtörter Gehirntheil iſt kein Ge-
hirn mehr, alſo auch nicht mehr im Stande, deſ-
ſen normale oder abnorme Funktion auszuüben,
d. h. Vorſtellungen zu erzeugen. Der Wahnſinn
hat in dieſem Fall nicht in den zerſtörten, ſon-
dern in den ſcheinbar unverletzten Theilen des
Gehirns ſeinen Sitz. Daher werden auch häufig

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0148" n="143"/>
Seite ge&#x017F;tellt werden. Beide Methoden bieten &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;chwe&#x017F;terlich die Hand. Das angegriffene Gehirn<lb/>
bekömmt zuweilen &#x017F;einen Ton von &#x017F;elb&#x017F;t wieder,<lb/>
wenn &#x017F;eine &#x017F;türmi&#x017F;chen Bewegungen gedämpft &#x017F;ind;<lb/>
oder der Gei&#x017F;t kehrt durch &#x017F;ich zur Ordnung zu-<lb/>
rück, wenn der körperliche Reiz be&#x017F;eitiget i&#x017F;t,<lb/>
der &#x017F;ein Organ ohne Nachla&#x017F;s peinigte. Wenn<lb/>
auch die Kranken zu &#x017F;aftreich oder zu blutarm,<lb/>
zu &#x017F;tumpf oder zu reizbar &#x017F;ind, oder ihr Gehirn<lb/>
mittelbar oder unmittelbar von fremden Körper-<lb/>
Reizen afficirt wird und &#x017F;ie daher vorzüglich<lb/>
der körperlichen Curmethode bedürfen, &#x017F;o wird<lb/>
die&#x017F;elbe doch, &#x017F;elb&#x017F;t in die&#x017F;em Fall, da &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
nie auf die Gei&#x017F;teszerrüttungen &#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;ondern<lb/>
blo&#x017F;s auf ihre Anlagen und Gelegenheiten bezieht,<lb/>
ungemein durch eine zweckmä&#x017F;sige p&#x017F;ychi&#x017F;che Be-<lb/>
handlung gefördert werden. Es i&#x017F;t &#x017F;ogar nicht<lb/>
unmöglich, da&#x017F;s Kranke mit unheilbaren Des-<lb/>
organi&#x017F;ationen, in und au&#x017F;ser dem Gehirn, durch<lb/>
p&#x017F;ychi&#x017F;che Curen von ihrem Wahn&#x017F;inn geheilt<lb/>
werden können. Die&#x017F;e &#x017F;ind nemlich nicht die<lb/><hi rendition="#g">Krankheit</hi> (zureichende Ur&#x017F;ache der Symp-<lb/>
tome), &#x017F;ondern nur Veranla&#x017F;&#x017F;ung zu ihrer Ent-<lb/>
&#x017F;tehung. Ein zer&#x017F;törter Gehirntheil i&#x017F;t kein Ge-<lb/>
hirn mehr, al&#x017F;o auch nicht mehr im Stande, de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en normale oder abnorme Funktion auszuüben,<lb/>
d. h. Vor&#x017F;tellungen zu erzeugen. Der Wahn&#x017F;inn<lb/>
hat in die&#x017F;em Fall nicht in den zer&#x017F;törten, &#x017F;on-<lb/>
dern in den &#x017F;cheinbar unverletzten Theilen des<lb/>
Gehirns &#x017F;einen Sitz. Daher werden auch häufig<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0148] Seite geſtellt werden. Beide Methoden bieten ſich ſchweſterlich die Hand. Das angegriffene Gehirn bekömmt zuweilen ſeinen Ton von ſelbſt wieder, wenn ſeine ſtürmiſchen Bewegungen gedämpft ſind; oder der Geiſt kehrt durch ſich zur Ordnung zu- rück, wenn der körperliche Reiz beſeitiget iſt, der ſein Organ ohne Nachlaſs peinigte. Wenn auch die Kranken zu ſaftreich oder zu blutarm, zu ſtumpf oder zu reizbar ſind, oder ihr Gehirn mittelbar oder unmittelbar von fremden Körper- Reizen afficirt wird und ſie daher vorzüglich der körperlichen Curmethode bedürfen, ſo wird dieſelbe doch, ſelbſt in dieſem Fall, da ſie ſich nie auf die Geiſteszerrüttungen ſelbſt, ſondern bloſs auf ihre Anlagen und Gelegenheiten bezieht, ungemein durch eine zweckmäſsige pſychiſche Be- handlung gefördert werden. Es iſt ſogar nicht unmöglich, daſs Kranke mit unheilbaren Des- organiſationen, in und auſser dem Gehirn, durch pſychiſche Curen von ihrem Wahnſinn geheilt werden können. Dieſe ſind nemlich nicht die Krankheit (zureichende Urſache der Symp- tome), ſondern nur Veranlaſſung zu ihrer Ent- ſtehung. Ein zerſtörter Gehirntheil iſt kein Ge- hirn mehr, alſo auch nicht mehr im Stande, deſ- ſen normale oder abnorme Funktion auszuüben, d. h. Vorſtellungen zu erzeugen. Der Wahnſinn hat in dieſem Fall nicht in den zerſtörten, ſon- dern in den ſcheinbar unverletzten Theilen des Gehirns ſeinen Sitz. Daher werden auch häufig

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/148
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/148>, abgerufen am 26.04.2024.