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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

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auf dem gemeinschaftlichen Symptom und nennen
alles Blödsinn, wo es an Urtheilskraft fehlt,
dies mag nun von einer Asthenie des Verstandes an
sich, oder von einer Lähmung einzelner oder al-
ler Seelenvermögen abhängen, die dem Verstande
in seinen Functionen sekundiren müssen. Hin-
gegen lassen wir die Asthenieen der einzelnen
Seelenvermögen als für sich bestehende Krankhei-
ten gelten, solang sie auf das eigenthümliche Ge-
schäfft des Verstandes keinen bedeutenden Ein-
fluss haben.

Mein Begriff des Blödsinns ist allgemein ge-
geben. Er begreift also jede Ohnmacht des Ver-
standes, als Art oder Abart unter sich, sie mag
so oder anders modificirt, aus einer eigenthüm-
lichen Schwäche des Verstandes oder aus Ohn-
machten anderer Seelenkräfte, die auf denselben
einfliessen, hervorgegangen seyn.

Wenn also das Wesen des Blödsinns in direk-
ter oder indirekter Asthenie des Verstandes besteht,
so folgt natürlich, dass wir seine Diagnostik von
der Verletzung der eigenthümlichen Functionen des
Verstandes, Begriffe, Urtheile und
Schlüsse zu bilden, hernehmen müssen.
Doch nicht alle schiefe Urtheile, nicht jeder Mangel
derselben ist Kennzeichen des Blödsinns. Sie fehlen
in der Kindheit, im Schlaf, in der Ohnmacht und
dem Scheintod. Sie können schief seyn oder feh-
len, weil die Sinne, die Einbildungskraft und das
Gedächtniss dem Verstande keine Materialien zur

C c 2

auf dem gemeinſchaftlichen Symptom und nennen
alles Blödſinn, wo es an Urtheilskraft fehlt,
dies mag nun von einer Aſthenie des Verſtandes an
ſich, oder von einer Lähmung einzelner oder al-
ler Seelenvermögen abhängen, die dem Verſtande
in ſeinen Functionen ſekundiren müſſen. Hin-
gegen laſſen wir die Aſthenieen der einzelnen
Seelenvermögen als für ſich beſtehende Krankhei-
ten gelten, ſolang ſie auf das eigenthümliche Ge-
ſchäfft des Verſtandes keinen bedeutenden Ein-
fluſs haben.

Mein Begriff des Blödſinns iſt allgemein ge-
geben. Er begreift alſo jede Ohnmacht des Ver-
ſtandes, als Art oder Abart unter ſich, ſie mag
ſo oder anders modificirt, aus einer eigenthüm-
lichen Schwäche des Verſtandes oder aus Ohn-
machten anderer Seelenkräfte, die auf denſelben
einflieſsen, hervorgegangen ſeyn.

Wenn alſo das Weſen des Blödſinns in direk-
ter oder indirekter Aſthenie des Verſtandes beſteht,
ſo folgt natürlich, daſs wir ſeine Diagnoſtik von
der Verletzung der eigenthümlichen Functionen des
Verſtandes, Begriffe, Urtheile und
Schlüſſe zu bilden, hernehmen müſſen.
Doch nicht alle ſchiefe Urtheile, nicht jeder Mangel
derſelben iſt Kennzeichen des Blödſinns. Sie fehlen
in der Kindheit, im Schlaf, in der Ohnmacht und
dem Scheintod. Sie können ſchief ſeyn oder feh-
len, weil die Sinne, die Einbildungskraft und das
Gedächtniſs dem Verſtande keine Materialien zur

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[403/0408] auf dem gemeinſchaftlichen Symptom und nennen alles Blödſinn, wo es an Urtheilskraft fehlt, dies mag nun von einer Aſthenie des Verſtandes an ſich, oder von einer Lähmung einzelner oder al- ler Seelenvermögen abhängen, die dem Verſtande in ſeinen Functionen ſekundiren müſſen. Hin- gegen laſſen wir die Aſthenieen der einzelnen Seelenvermögen als für ſich beſtehende Krankhei- ten gelten, ſolang ſie auf das eigenthümliche Ge- ſchäfft des Verſtandes keinen bedeutenden Ein- fluſs haben. Mein Begriff des Blödſinns iſt allgemein ge- geben. Er begreift alſo jede Ohnmacht des Ver- ſtandes, als Art oder Abart unter ſich, ſie mag ſo oder anders modificirt, aus einer eigenthüm- lichen Schwäche des Verſtandes oder aus Ohn- machten anderer Seelenkräfte, die auf denſelben einflieſsen, hervorgegangen ſeyn. Wenn alſo das Weſen des Blödſinns in direk- ter oder indirekter Aſthenie des Verſtandes beſteht, ſo folgt natürlich, daſs wir ſeine Diagnoſtik von der Verletzung der eigenthümlichen Functionen des Verſtandes, Begriffe, Urtheile und Schlüſſe zu bilden, hernehmen müſſen. Doch nicht alle ſchiefe Urtheile, nicht jeder Mangel derſelben iſt Kennzeichen des Blödſinns. Sie fehlen in der Kindheit, im Schlaf, in der Ohnmacht und dem Scheintod. Sie können ſchief ſeyn oder feh- len, weil die Sinne, die Einbildungskraft und das Gedächtniſs dem Verſtande keine Materialien zur C c 2

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Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/408>, abgerufen am 26.04.2024.