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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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I. Geschichte des japanischen Volkes.
überreichte auf weissem Taburet aus Hinoki-Holz das kurze dolch-
artige Schwert (wakizashi), dessen Klinge bis auf die mehrere Zoll
freie Spitze umwickelt war, und in einfacher weisser Scheide stack.
Der Verurteilte äusserte hierauf seinen letzten Willen und bat noch-
mals den zur Seite kauernden Freund, ihm die letzte Ehre zu er-
weisen und nach vollendetem Schnitt ihm mit dem ausgewählten
Schwerte den Kopf abzuschneiden. Alsdann erfasste er mit der linken
Hand ruhig die ihm präsentierte Waffe, entblösste sie und führte mit
dem scheinbar grössten Gleichmuthe den Schnitt von rechts nach links
20--24 cm weit unter der Nabelgegend, während unmittelbar darauf
der hinter ihm stehende Freund mit sicherem Hiebe den Kopf vom
Rumpfe trennte und den Zeugen des Actes vorzeigte.

Alle Regungen des Gefühls wurden bei dem Harakiri unterdrückt.
Es war ein Zeichen der grössten Mannhaftigkeit, hochgehalten von
der ganzen Nation; die geringste Angst, ein Schauder nur davor
würde Verachtung nach sich gezogen haben.

Die Heimin oder das gewöhnliche Volk zerfiel in drei Classen.
Oben an standen im Range die Hiyakusho oder Bauern, von denen
die grösseren Grundbesitzer sogar Schwerter tragen durften, dann
folgten die Shokunin oder Handwerker und endlich kamen die
Akindo *) oder Kaufleute.

Ausserhalb dieser verschiedenen Classen der Gesellschaft stan-
den, wie Parias verachtet, die Eta's und Hinin. Die Etas (Un-
reine) waren Schinder, Gerber und Lederarbeiter; daneben fiel ihnen
auch das Gräbermachen zu. Sie lebten abgeschlossen in besonderen
Ortschaften oder Stadttheilen, besassen eine eigene Organisation und
theilweise grosse Reichthümer. Das Heirathen mit Personen ausser-
halb ihres Standes war ihnen untersagt. Höhergestellte betraten nie
ihre Häuser, noch durften sie mit ihnen essen und trinken. Die Ab-
kunft der Eta's steht nicht ganz sicher. Wahrscheinlich waren es
Nachkommen von Fleischern, welche in diese missachtete Stellung
kamen, als der Buddhismus herrschend wurde und in Folge dessen
der Mikado Temmu (672--686) die Fleischnahrung verbot, ein Gesetz,
das indess später nicht streng befolgt wurde, mit Ausnahme von eini-
gen Secten. Die Hinin (Nichtmenschen) bildeten eine Classe Armer,
welche erst mit der Tokugawa-Herrschaft aufkamen, zerlumpt und
schmutzig einhergingen und sich von Almosen nährten. Man erlaubte

*) Nachdem Yokohama und andere Häfen in der Neuzeit dem fremden Ver-
kehr geöffnet worden waren, befremdete und verletzte die Samurai kaum etwas
mehr, als das ihnen unbekannte selbstbewusste Auftreten der fremden Kaufleute,
deren gesellschaftliche Stellung sie zunächst nach derjenigen der Akindo bemassen.

I. Geschichte des japanischen Volkes.
überreichte auf weissem Taburet aus Hinoki-Holz das kurze dolch-
artige Schwert (wakizashi), dessen Klinge bis auf die mehrere Zoll
freie Spitze umwickelt war, und in einfacher weisser Scheide stack.
Der Verurteilte äusserte hierauf seinen letzten Willen und bat noch-
mals den zur Seite kauernden Freund, ihm die letzte Ehre zu er-
weisen und nach vollendetem Schnitt ihm mit dem ausgewählten
Schwerte den Kopf abzuschneiden. Alsdann erfasste er mit der linken
Hand ruhig die ihm präsentierte Waffe, entblösste sie und führte mit
dem scheinbar grössten Gleichmuthe den Schnitt von rechts nach links
20—24 cm weit unter der Nabelgegend, während unmittelbar darauf
der hinter ihm stehende Freund mit sicherem Hiebe den Kopf vom
Rumpfe trennte und den Zeugen des Actes vorzeigte.

Alle Regungen des Gefühls wurden bei dem Harakiri unterdrückt.
Es war ein Zeichen der grössten Mannhaftigkeit, hochgehalten von
der ganzen Nation; die geringste Angst, ein Schauder nur davor
würde Verachtung nach sich gezogen haben.

Die Heimin oder das gewöhnliche Volk zerfiel in drei Classen.
Oben an standen im Range die Hiyakushô oder Bauern, von denen
die grösseren Grundbesitzer sogar Schwerter tragen durften, dann
folgten die Shokunin oder Handwerker und endlich kamen die
Akindo *) oder Kaufleute.

Ausserhalb dieser verschiedenen Classen der Gesellschaft stan-
den, wie Parias verachtet, die Eta’s und Hinin. Die Etas (Un-
reine) waren Schinder, Gerber und Lederarbeiter; daneben fiel ihnen
auch das Gräbermachen zu. Sie lebten abgeschlossen in besonderen
Ortschaften oder Stadttheilen, besassen eine eigene Organisation und
theilweise grosse Reichthümer. Das Heirathen mit Personen ausser-
halb ihres Standes war ihnen untersagt. Höhergestellte betraten nie
ihre Häuser, noch durften sie mit ihnen essen und trinken. Die Ab-
kunft der Eta’s steht nicht ganz sicher. Wahrscheinlich waren es
Nachkommen von Fleischern, welche in diese missachtete Stellung
kamen, als der Buddhismus herrschend wurde und in Folge dessen
der Mikado Temmu (672—686) die Fleischnahrung verbot, ein Gesetz,
das indess später nicht streng befolgt wurde, mit Ausnahme von eini-
gen Secten. Die Hinin (Nichtmenschen) bildeten eine Classe Armer,
welche erst mit der Tokugawa-Herrschaft aufkamen, zerlumpt und
schmutzig einhergingen und sich von Almosen nährten. Man erlaubte

*) Nachdem Yokohama und andere Häfen in der Neuzeit dem fremden Ver-
kehr geöffnet worden waren, befremdete und verletzte die Samurai kaum etwas
mehr, als das ihnen unbekannte selbstbewusste Auftreten der fremden Kaufleute,
deren gesellschaftliche Stellung sie zunächst nach derjenigen der Akindo bemassen.
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[380/0408] I. Geschichte des japanischen Volkes. überreichte auf weissem Taburet aus Hinoki-Holz das kurze dolch- artige Schwert (wakizashi), dessen Klinge bis auf die mehrere Zoll freie Spitze umwickelt war, und in einfacher weisser Scheide stack. Der Verurteilte äusserte hierauf seinen letzten Willen und bat noch- mals den zur Seite kauernden Freund, ihm die letzte Ehre zu er- weisen und nach vollendetem Schnitt ihm mit dem ausgewählten Schwerte den Kopf abzuschneiden. Alsdann erfasste er mit der linken Hand ruhig die ihm präsentierte Waffe, entblösste sie und führte mit dem scheinbar grössten Gleichmuthe den Schnitt von rechts nach links 20—24 cm weit unter der Nabelgegend, während unmittelbar darauf der hinter ihm stehende Freund mit sicherem Hiebe den Kopf vom Rumpfe trennte und den Zeugen des Actes vorzeigte. Alle Regungen des Gefühls wurden bei dem Harakiri unterdrückt. Es war ein Zeichen der grössten Mannhaftigkeit, hochgehalten von der ganzen Nation; die geringste Angst, ein Schauder nur davor würde Verachtung nach sich gezogen haben. Die Heimin oder das gewöhnliche Volk zerfiel in drei Classen. Oben an standen im Range die Hiyakushô oder Bauern, von denen die grösseren Grundbesitzer sogar Schwerter tragen durften, dann folgten die Shokunin oder Handwerker und endlich kamen die Akindo *) oder Kaufleute. Ausserhalb dieser verschiedenen Classen der Gesellschaft stan- den, wie Parias verachtet, die Eta’s und Hinin. Die Etas (Un- reine) waren Schinder, Gerber und Lederarbeiter; daneben fiel ihnen auch das Gräbermachen zu. Sie lebten abgeschlossen in besonderen Ortschaften oder Stadttheilen, besassen eine eigene Organisation und theilweise grosse Reichthümer. Das Heirathen mit Personen ausser- halb ihres Standes war ihnen untersagt. Höhergestellte betraten nie ihre Häuser, noch durften sie mit ihnen essen und trinken. Die Ab- kunft der Eta’s steht nicht ganz sicher. Wahrscheinlich waren es Nachkommen von Fleischern, welche in diese missachtete Stellung kamen, als der Buddhismus herrschend wurde und in Folge dessen der Mikado Temmu (672—686) die Fleischnahrung verbot, ein Gesetz, das indess später nicht streng befolgt wurde, mit Ausnahme von eini- gen Secten. Die Hinin (Nichtmenschen) bildeten eine Classe Armer, welche erst mit der Tokugawa-Herrschaft aufkamen, zerlumpt und schmutzig einhergingen und sich von Almosen nährten. Man erlaubte *) Nachdem Yokohama und andere Häfen in der Neuzeit dem fremden Ver- kehr geöffnet worden waren, befremdete und verletzte die Samurai kaum etwas mehr, als das ihnen unbekannte selbstbewusste Auftreten der fremden Kaufleute, deren gesellschaftliche Stellung sie zunächst nach derjenigen der Akindo bemassen.

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/408>, abgerufen am 26.04.2024.