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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Emporkommen alter, in der vorigen Periode unterdrückter
Elemente des religiösen Lebens bedeuten, theils den Eintritt
ganz neuer Kräfte, die im Verein mit dem neugewordenen
Alten ein Drittes aus sich hervorgehen lassen.

I.
Cultus der chthonischen Götter.

Was der vergleichenden Betrachtung in der nachhomeri-
schen Religionsentwicklung wie ein neuer Bestandtheil entgegen-
tritt, ist vornehmlich der Cult der chthonischen, d. h. im
Inneren der Erde hausenden Götter. Und doch kann man
nicht daran zweifeln, dass diese Gottheiten zum ältesten Besitze
des griechischen Glaubens gehören, schon darum nicht, weil
sie, an den Boden der Landschaft, die sie verehrt, gebunden,
die ächtesten Localgötter, die wahren Heimathsgötter sind.
Es sind Gottheiten, die auch Homer kennt; aber die Dichtung
hat sie, aller landschaftlichen Beschränkung entkleidet, in ein
fernes, lebenden Menschen unzugängliches Höhlenreich jenseits
des Okeanos entrückt. Dort walten Aides und die schreck-
liche Persephoneia als Hüter der Seelen; auf das Leben und
Thun der Menschen auf Erden können sie aus jener unerreich-
baren Ferne keinen Einfluss üben. Der Cultus kennt auch
diese Gottheiten nur nach ihren besonderen Beziehungen auf
die einzelnen Landschaften, die einzelnen Cultusgemeinden. Von
diesen verehrt eine jede, unbekümmert um ausgleichende Vor-
stellungen von einem geschlossenen Götterreiche (wie sie das
Epos nährte), unbekümmert um gleiche, concurrirende An-
sprüche der Nachbargemeinden, die Unterirdischen als nur
ihrem Boden, ihrer Landschaft Angehörige; und erst in diesem
localen Cultus zeigen die chthonischen Götter ihr wahres Ge-
sicht, wie es der Glaube ihrer Verehrer schaute. Sie sind
Götter einer sesshaften, ackerbauenden, binnenländischen Be-

Emporkommen alter, in der vorigen Periode unterdrückter
Elemente des religiösen Lebens bedeuten, theils den Eintritt
ganz neuer Kräfte, die im Verein mit dem neugewordenen
Alten ein Drittes aus sich hervorgehen lassen.

I.
Cultus der chthonischen Götter.

Was der vergleichenden Betrachtung in der nachhomeri-
schen Religionsentwicklung wie ein neuer Bestandtheil entgegen-
tritt, ist vornehmlich der Cult der chthonischen, d. h. im
Inneren der Erde hausenden Götter. Und doch kann man
nicht daran zweifeln, dass diese Gottheiten zum ältesten Besitze
des griechischen Glaubens gehören, schon darum nicht, weil
sie, an den Boden der Landschaft, die sie verehrt, gebunden,
die ächtesten Localgötter, die wahren Heimathsgötter sind.
Es sind Gottheiten, die auch Homer kennt; aber die Dichtung
hat sie, aller landschaftlichen Beschränkung entkleidet, in ein
fernes, lebenden Menschen unzugängliches Höhlenreich jenseits
des Okeanos entrückt. Dort walten Aïdes und die schreck-
liche Persephoneia als Hüter der Seelen; auf das Leben und
Thun der Menschen auf Erden können sie aus jener unerreich-
baren Ferne keinen Einfluss üben. Der Cultus kennt auch
diese Gottheiten nur nach ihren besonderen Beziehungen auf
die einzelnen Landschaften, die einzelnen Cultusgemeinden. Von
diesen verehrt eine jede, unbekümmert um ausgleichende Vor-
stellungen von einem geschlossenen Götterreiche (wie sie das
Epos nährte), unbekümmert um gleiche, concurrirende An-
sprüche der Nachbargemeinden, die Unterirdischen als nur
ihrem Boden, ihrer Landschaft Angehörige; und erst in diesem
localen Cultus zeigen die chthonischen Götter ihr wahres Ge-
sicht, wie es der Glaube ihrer Verehrer schaute. Sie sind
Götter einer sesshaften, ackerbauenden, binnenländischen Be-

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[190/0206] Emporkommen alter, in der vorigen Periode unterdrückter Elemente des religiösen Lebens bedeuten, theils den Eintritt ganz neuer Kräfte, die im Verein mit dem neugewordenen Alten ein Drittes aus sich hervorgehen lassen. I. Cultus der chthonischen Götter. Was der vergleichenden Betrachtung in der nachhomeri- schen Religionsentwicklung wie ein neuer Bestandtheil entgegen- tritt, ist vornehmlich der Cult der chthonischen, d. h. im Inneren der Erde hausenden Götter. Und doch kann man nicht daran zweifeln, dass diese Gottheiten zum ältesten Besitze des griechischen Glaubens gehören, schon darum nicht, weil sie, an den Boden der Landschaft, die sie verehrt, gebunden, die ächtesten Localgötter, die wahren Heimathsgötter sind. Es sind Gottheiten, die auch Homer kennt; aber die Dichtung hat sie, aller landschaftlichen Beschränkung entkleidet, in ein fernes, lebenden Menschen unzugängliches Höhlenreich jenseits des Okeanos entrückt. Dort walten Aïdes und die schreck- liche Persephoneia als Hüter der Seelen; auf das Leben und Thun der Menschen auf Erden können sie aus jener unerreich- baren Ferne keinen Einfluss üben. Der Cultus kennt auch diese Gottheiten nur nach ihren besonderen Beziehungen auf die einzelnen Landschaften, die einzelnen Cultusgemeinden. Von diesen verehrt eine jede, unbekümmert um ausgleichende Vor- stellungen von einem geschlossenen Götterreiche (wie sie das Epos nährte), unbekümmert um gleiche, concurrirende An- sprüche der Nachbargemeinden, die Unterirdischen als nur ihrem Boden, ihrer Landschaft Angehörige; und erst in diesem localen Cultus zeigen die chthonischen Götter ihr wahres Ge- sicht, wie es der Glaube ihrer Verehrer schaute. Sie sind Götter einer sesshaften, ackerbauenden, binnenländischen Be-

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/206>, abgerufen am 26.04.2024.