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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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5.
Der Bau und das Leben des Baumes.
Lehr mich, Ehrwürd'ger, Dein Wesen verstehen,
Daß ich in ihm mein Vorbild erkenne,
Daß ich Deinen Schüler mich nenne,
Redlichen Eifers voll, Dir nachzugehen.
Du mein Vorbild im stillen Begnügen,
Du mein Vorbild in nützlichen Werken.
Du mein Vorbild, den Muth mir zu stärken,
Will meine Kraft im Sturme erliegen.

Es ist eine sonderbare Gedankenlosigkeit oder mindestens Unachtsam-
keit, daß man den Baum gemeiniglich mit gleichgültigen, wenn nicht mit
geringschätzenden Blicken ansieht, wann er seines Schmuckes beraubt in
winterlicher Armuth vor uns steht. Es ist aber geradehin eine Unmög-
lichkeit, ein volles Verständniß des Baumes zu gewinnen, wenn wir ihn
nicht auch im Winter ansehen. Gerade der laublose Baum enthüllt uns
die Gesetze seines Baues und seines Werdens vollständiger und klarer,
als wenn er in verwirrender Laub- und Blüthenpracht als schönes
vollendetes Ganzes vor uns steht, an dem der Theil sich nicht geltend
machen kann.

Kaum daß der Landschaftsmaler -- von Anderen will ich gar nicht
sprechen -- im Sommer die Ulme von der Esche, den Spitzahorn vom
Bergahorn, die Buche vom Hornbaum unterscheiden kann; im Winter geht,
ich rede aus vielfacher Erfahrung, die Baumkenntniß über die weißstäm-
mige Birke und über den Allerweltsstudienbaum, die Eiche, nicht hinaus.

Jetzt wo wir den Baum nicht blos mit wissenschaftlich forschendem
Auge, sondern, wie es in der Naturforschung stets sein sollte, auch mit
dem schön menschlichen Wohlgefallen des geläuterten Geschmackes be-
trachten wollen, kann ich es mir um so weniger versagen, über Kunst

Roßmäßler, der Wald. 4
5.
Der Bau und das Leben des Baumes.
Lehr mich, Ehrwürd’ger, Dein Weſen verſtehen,
Daß ich in ihm mein Vorbild erkenne,
Daß ich Deinen Schüler mich nenne,
Redlichen Eifers voll, Dir nachzugehen.
Du mein Vorbild im ſtillen Begnügen,
Du mein Vorbild in nützlichen Werken.
Du mein Vorbild, den Muth mir zu ſtärken,
Will meine Kraft im Sturme erliegen.

Es iſt eine ſonderbare Gedankenloſigkeit oder mindeſtens Unachtſam-
keit, daß man den Baum gemeiniglich mit gleichgültigen, wenn nicht mit
geringſchätzenden Blicken anſieht, wann er ſeines Schmuckes beraubt in
winterlicher Armuth vor uns ſteht. Es iſt aber geradehin eine Unmög-
lichkeit, ein volles Verſtändniß des Baumes zu gewinnen, wenn wir ihn
nicht auch im Winter anſehen. Gerade der laubloſe Baum enthüllt uns
die Geſetze ſeines Baues und ſeines Werdens vollſtändiger und klarer,
als wenn er in verwirrender Laub- und Blüthenpracht als ſchönes
vollendetes Ganzes vor uns ſteht, an dem der Theil ſich nicht geltend
machen kann.

Kaum daß der Landſchaftsmaler — von Anderen will ich gar nicht
ſprechen — im Sommer die Ulme von der Eſche, den Spitzahorn vom
Bergahorn, die Buche vom Hornbaum unterſcheiden kann; im Winter geht,
ich rede aus vielfacher Erfahrung, die Baumkenntniß über die weißſtäm-
mige Birke und über den Allerweltsſtudienbaum, die Eiche, nicht hinaus.

Jetzt wo wir den Baum nicht blos mit wiſſenſchaftlich forſchendem
Auge, ſondern, wie es in der Naturforſchung ſtets ſein ſollte, auch mit
dem ſchön menſchlichen Wohlgefallen des geläuterten Geſchmackes be-
trachten wollen, kann ich es mir um ſo weniger verſagen, über Kunſt

Roßmäßler, der Wald. 4
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[[49]/0073] 5. Der Bau und das Leben des Baumes. Lehr mich, Ehrwürd’ger, Dein Weſen verſtehen, Daß ich in ihm mein Vorbild erkenne, Daß ich Deinen Schüler mich nenne, Redlichen Eifers voll, Dir nachzugehen. Du mein Vorbild im ſtillen Begnügen, Du mein Vorbild in nützlichen Werken. Du mein Vorbild, den Muth mir zu ſtärken, Will meine Kraft im Sturme erliegen. Es iſt eine ſonderbare Gedankenloſigkeit oder mindeſtens Unachtſam- keit, daß man den Baum gemeiniglich mit gleichgültigen, wenn nicht mit geringſchätzenden Blicken anſieht, wann er ſeines Schmuckes beraubt in winterlicher Armuth vor uns ſteht. Es iſt aber geradehin eine Unmög- lichkeit, ein volles Verſtändniß des Baumes zu gewinnen, wenn wir ihn nicht auch im Winter anſehen. Gerade der laubloſe Baum enthüllt uns die Geſetze ſeines Baues und ſeines Werdens vollſtändiger und klarer, als wenn er in verwirrender Laub- und Blüthenpracht als ſchönes vollendetes Ganzes vor uns ſteht, an dem der Theil ſich nicht geltend machen kann. Kaum daß der Landſchaftsmaler — von Anderen will ich gar nicht ſprechen — im Sommer die Ulme von der Eſche, den Spitzahorn vom Bergahorn, die Buche vom Hornbaum unterſcheiden kann; im Winter geht, ich rede aus vielfacher Erfahrung, die Baumkenntniß über die weißſtäm- mige Birke und über den Allerweltsſtudienbaum, die Eiche, nicht hinaus. Jetzt wo wir den Baum nicht blos mit wiſſenſchaftlich forſchendem Auge, ſondern, wie es in der Naturforſchung ſtets ſein ſollte, auch mit dem ſchön menſchlichen Wohlgefallen des geläuterten Geſchmackes be- trachten wollen, kann ich es mir um ſo weniger verſagen, über Kunſt Roßmäßler, der Wald. 4

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. [49]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/73>, abgerufen am 26.04.2024.