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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Dritter Abschnitt.
von Neigung mit der Fingerspitze gebieten
können: lege dich, und jedem Gemurmel
der Eigenliebe: verstumme. Diese höchste,
praktische Vernunft heißt in der verachteten
Sprache des Evangeliums: Selbstverläug-
nung, ein Begriff,
der in den beliebte-
sten, und zahlreichsten Schriftstellereyen des
Jahrhunderts keinen Plaz mehr finden kann,
so wenig die Sache selbst, die wirkliche
Selbstverläugnung, bisher bey den Meisten
hat Eingang finden können. Es ist trau-
rig, daß die Fahrten der theoretischen (y)
Vernunft so viele Lobredner haben, unge-
achtet der vielen Sandbänke und Meerstru-
del, die sie allemal gefährlich machen, im
Gegentheile die Souveränität der prakti-
schen Vernunft über das tausendwogige Men-
schenherz, die allemal nur mit Freude und
Heiterkeit lohnet, so wenig Freunde findet.

Man hat dem Christenthum vorgewor-
fen, daß es die Rechte der menschlichen Ver-
nunft kränket: und ich halte es für die erste
Eigenschaft des Christenthums, daß es die

Ver-
(y) Dieß sey mit aller Ehrfurcht gegen den
Kopf des Menschen gesagt.

Dritter Abſchnitt.
von Neigung mit der Fingerſpitze gebieten
koͤnnen: lege dich, und jedem Gemurmel
der Eigenliebe: verſtumme. Dieſe hoͤchſte,
praktiſche Vernunft heißt in der verachteten
Sprache des Evangeliums: Selbſtverlaͤug-
nung, ein Begriff,
der in den beliebte-
ſten, und zahlreichſten Schriftſtellereyen des
Jahrhunderts keinen Plaz mehr finden kann,
ſo wenig die Sache ſelbſt, die wirkliche
Selbſtverlaͤugnung, bisher bey den Meiſten
hat Eingang finden koͤnnen. Es iſt trau-
rig, daß die Fahrten der theoretiſchen (y)
Vernunft ſo viele Lobredner haben, unge-
achtet der vielen Sandbaͤnke und Meerſtru-
del, die ſie allemal gefaͤhrlich machen, im
Gegentheile die Souveraͤnitaͤt der prakti-
ſchen Vernunft uͤber das tauſendwogige Men-
ſchenherz, die allemal nur mit Freude und
Heiterkeit lohnet, ſo wenig Freunde findet.

Man hat dem Chriſtenthum vorgewor-
fen, daß es die Rechte der menſchlichen Ver-
nunft kraͤnket: und ich halte es fuͤr die erſte
Eigenſchaft des Chriſtenthums, daß es die

Ver-
(y) Dieß ſey mit aller Ehrfurcht gegen den
Kopf des Menſchen geſagt.
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[150/0162] Dritter Abſchnitt. von Neigung mit der Fingerſpitze gebieten koͤnnen: lege dich, und jedem Gemurmel der Eigenliebe: verſtumme. Dieſe hoͤchſte, praktiſche Vernunft heißt in der verachteten Sprache des Evangeliums: Selbſtverlaͤug- nung, ein Begriff, der in den beliebte- ſten, und zahlreichſten Schriftſtellereyen des Jahrhunderts keinen Plaz mehr finden kann, ſo wenig die Sache ſelbſt, die wirkliche Selbſtverlaͤugnung, bisher bey den Meiſten hat Eingang finden koͤnnen. Es iſt trau- rig, daß die Fahrten der theoretiſchen (y) Vernunft ſo viele Lobredner haben, unge- achtet der vielen Sandbaͤnke und Meerſtru- del, die ſie allemal gefaͤhrlich machen, im Gegentheile die Souveraͤnitaͤt der prakti- ſchen Vernunft uͤber das tauſendwogige Men- ſchenherz, die allemal nur mit Freude und Heiterkeit lohnet, ſo wenig Freunde findet. Man hat dem Chriſtenthum vorgewor- fen, daß es die Rechte der menſchlichen Ver- nunft kraͤnket: und ich halte es fuͤr die erſte Eigenſchaft des Chriſtenthums, daß es die Ver- (y) Dieß ſey mit aller Ehrfurcht gegen den Kopf des Menſchen geſagt.

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/162>, abgerufen am 27.04.2024.