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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 8. Berlin, 1849.

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Buch III. Herrschaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen-
dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein
Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde,
in welchem Römisches Recht, mit dem Verbot höherer Zin-
sen, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den-
ken, das angeführte transitorische Gesetz auf die in jener
Gegend geschlossenen früheren Zinsverträge anzuwenden.
Allein auch diese Anwendung würde ich als eine ungehö-
rige, blos buchstäbliche, dem Geist des Gesetzes wider-
sprechende, verwerfen müssen. Denn jedes transitorische
Gesetz, so weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin-
aus geht, und, so wie jenes Gesetz Justinian's, eine Rück-
wirkung anordnet, ist von streng positiver Natur, also ganz
abhängig von den Umständen und Bedürfnissen seiner Zeit,
und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält-
nisse gültigen Rechtsregel. Justinian kann also die hier
erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht
oder Unrecht) annahm, sie sey nach dem Bedürfniß seiner
Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir dieselbe aber jetzt
anwenden, so würden wir über den Sinn derselben hinaus-
gehen, indem wir ohne allen Grund voraussetzen müßten,
er habe diese Vorschrift auch für alle künftige Zeiten, deren
Bedürfnisse er unmöglich vorhersehen konnte, gelten lassen
wollen.

Wenngleich nun aus diesen Gründen hervorgeht, daß
wir den erwähnten Aussprüchen des Römischen Rechts die
Kraft bindender Gesetze, selbst in dem Gebiete unseres ge-

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.
aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen-
dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein
Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde,
in welchem Römiſches Recht, mit dem Verbot höherer Zin-
ſen, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den-
ken, das angeführte tranſitoriſche Geſetz auf die in jener
Gegend geſchloſſenen früheren Zinsverträge anzuwenden.
Allein auch dieſe Anwendung würde ich als eine ungehö-
rige, blos buchſtäbliche, dem Geiſt des Geſetzes wider-
ſprechende, verwerfen müſſen. Denn jedes tranſitoriſche
Geſetz, ſo weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin-
aus geht, und, ſo wie jenes Geſetz Juſtinian’s, eine Rück-
wirkung anordnet, iſt von ſtreng poſitiver Natur, alſo ganz
abhängig von den Umſtänden und Bedürfniſſen ſeiner Zeit,
und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält-
niſſe gültigen Rechtsregel. Juſtinian kann alſo die hier
erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht
oder Unrecht) annahm, ſie ſey nach dem Bedürfniß ſeiner
Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir dieſelbe aber jetzt
anwenden, ſo würden wir über den Sinn derſelben hinaus-
gehen, indem wir ohne allen Grund vorausſetzen müßten,
er habe dieſe Vorſchrift auch für alle künftige Zeiten, deren
Bedürfniſſe er unmöglich vorherſehen konnte, gelten laſſen
wollen.

Wenngleich nun aus dieſen Gründen hervorgeht, daß
wir den erwähnten Ausſprüchen des Römiſchen Rechts die
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[398/0420] Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen. aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen- dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde, in welchem Römiſches Recht, mit dem Verbot höherer Zin- ſen, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den- ken, das angeführte tranſitoriſche Geſetz auf die in jener Gegend geſchloſſenen früheren Zinsverträge anzuwenden. Allein auch dieſe Anwendung würde ich als eine ungehö- rige, blos buchſtäbliche, dem Geiſt des Geſetzes wider- ſprechende, verwerfen müſſen. Denn jedes tranſitoriſche Geſetz, ſo weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin- aus geht, und, ſo wie jenes Geſetz Juſtinian’s, eine Rück- wirkung anordnet, iſt von ſtreng poſitiver Natur, alſo ganz abhängig von den Umſtänden und Bedürfniſſen ſeiner Zeit, und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält- niſſe gültigen Rechtsregel. Juſtinian kann alſo die hier erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht oder Unrecht) annahm, ſie ſey nach dem Bedürfniß ſeiner Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir dieſelbe aber jetzt anwenden, ſo würden wir über den Sinn derſelben hinaus- gehen, indem wir ohne allen Grund vorausſetzen müßten, er habe dieſe Vorſchrift auch für alle künftige Zeiten, deren Bedürfniſſe er unmöglich vorherſehen konnte, gelten laſſen wollen. Wenngleich nun aus dieſen Gründen hervorgeht, daß wir den erwähnten Ausſprüchen des Römiſchen Rechts die Kraft bindender Geſetze, ſelbſt in dem Gebiete unſeres ge-

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 8. Berlin, 1849, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849/420>, abgerufen am 26.04.2024.