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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Dichtart liegt eine Idee zu Grunde. Wird nun ihr Begriff nach der
einzelnen Erscheinung bestimmt, so ist er, weil diese der Idee niemals
ganz angemessen seyn kann, nothwendig in der Gefahr über kurz oder
lang zu eng befunden und also verworfen zu werden oder gar gebraucht
zu werden, um ein in ihre Schranken nicht sich fügendes, auch vor-
treffliches Kunstwerk zu verwerfen. Die Idee jeder Dichtart aber ist
durch die Möglichkeit bestimmt, die durch sie erfüllt ist.

Der Begriff, den die Neueren von der Elegie fast allgemein
gehabt haben, ist, daß sie Klaggedichte seyen, ihr herrschender Geist
empfindsame Trauer. Es ist nicht zu leugnen, daß auch die Klage und
die Trauer sich in dieser Dichtart ausgesprochen hat, und daß die
Elegie vorzüglich zu Klaggesängen über Verstorbene bestimmt war. Dieß
aber ist nur Eine Erscheinungsweise, übrigens aber von unendlicher
Mannichfaltigkeit und Bildsamkeit und so, daß diese Eine Gattung,
obwohl allerdings nur bruchstücklich, das ganze Leben zu umfassen fähig
ist. Die Elegie ist, als Art des epischen Gedichts, ihrer Natur nach
geschichtlich; auch als Klaggesang verleugnet sie ihren Charakter
nicht, ja sie ist, könnte man sagen, der Trauer fähig eben nur, weil
sie des Blicks in die Vergangenheit fähig ist, wie das Epos. Uebrigens
weilt sie ebenso bestimmt in der Gegenwart, und besingt die befriedigte
Sehnsucht nicht minder als den Stachel der unbefriedigten. Ihre Grenze
in der Darstellung ist ihr nicht durch den individuellen und einzelnen Zu-
stand gesteckt, sondern sie schweift von da wirklich in den epischen Kreis
aus. Die Elegie ist durch ihre Natur schon eine der unbegrenzbarsten
Gattungen, daher sich außer dem allgemeinen Charakter, der durch ihr
Verhältniß zum Epos und zur Idylle bestimmt ist, nur eben diese un-
endliche Bildsamkeit als ihr eigenthümlichstes und natürlichstes Wesen
bezeichnen läßt. Die unmittelbarste Bekanntschaft mit dem Geist der
Elegie gewinnt man durch die Muster der Alten. Einige der schönsten
Bruchstücke des Phanokles, des Hermesianax sind im Athenäum über-
setzt. Die Elegie hat aber auch in der römischen Sprache in Tibull,
Catull und Properz wieder aufleben können, und zu unseren Zeiten
hat Goethe durch seine römischen Elegien die ächte Gattung wiederher-

Dichtart liegt eine Idee zu Grunde. Wird nun ihr Begriff nach der
einzelnen Erſcheinung beſtimmt, ſo iſt er, weil dieſe der Idee niemals
ganz angemeſſen ſeyn kann, nothwendig in der Gefahr über kurz oder
lang zu eng befunden und alſo verworfen zu werden oder gar gebraucht
zu werden, um ein in ihre Schranken nicht ſich fügendes, auch vor-
treffliches Kunſtwerk zu verwerfen. Die Idee jeder Dichtart aber iſt
durch die Möglichkeit beſtimmt, die durch ſie erfüllt iſt.

Der Begriff, den die Neueren von der Elegie faſt allgemein
gehabt haben, iſt, daß ſie Klaggedichte ſeyen, ihr herrſchender Geiſt
empfindſame Trauer. Es iſt nicht zu leugnen, daß auch die Klage und
die Trauer ſich in dieſer Dichtart ausgeſprochen hat, und daß die
Elegie vorzüglich zu Klaggeſängen über Verſtorbene beſtimmt war. Dieß
aber iſt nur Eine Erſcheinungsweiſe, übrigens aber von unendlicher
Mannichfaltigkeit und Bildſamkeit und ſo, daß dieſe Eine Gattung,
obwohl allerdings nur bruchſtücklich, das ganze Leben zu umfaſſen fähig
iſt. Die Elegie iſt, als Art des epiſchen Gedichts, ihrer Natur nach
geſchichtlich; auch als Klaggeſang verleugnet ſie ihren Charakter
nicht, ja ſie iſt, könnte man ſagen, der Trauer fähig eben nur, weil
ſie des Blicks in die Vergangenheit fähig iſt, wie das Epos. Uebrigens
weilt ſie ebenſo beſtimmt in der Gegenwart, und beſingt die befriedigte
Sehnſucht nicht minder als den Stachel der unbefriedigten. Ihre Grenze
in der Darſtellung iſt ihr nicht durch den individuellen und einzelnen Zu-
ſtand geſteckt, ſondern ſie ſchweift von da wirklich in den epiſchen Kreis
aus. Die Elegie iſt durch ihre Natur ſchon eine der unbegrenzbarſten
Gattungen, daher ſich außer dem allgemeinen Charakter, der durch ihr
Verhältniß zum Epos und zur Idylle beſtimmt iſt, nur eben dieſe un-
endliche Bildſamkeit als ihr eigenthümlichſtes und natürlichſtes Weſen
bezeichnen läßt. Die unmittelbarſte Bekanntſchaft mit dem Geiſt der
Elegie gewinnt man durch die Muſter der Alten. Einige der ſchönſten
Bruchſtücke des Phanokles, des Hermeſianax ſind im Athenäum über-
ſetzt. Die Elegie hat aber auch in der römiſchen Sprache in Tibull,
Catull und Properz wieder aufleben können, und zu unſeren Zeiten
hat Goethe durch ſeine römiſchen Elegien die ächte Gattung wiederher-

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[660/0336] Dichtart liegt eine Idee zu Grunde. Wird nun ihr Begriff nach der einzelnen Erſcheinung beſtimmt, ſo iſt er, weil dieſe der Idee niemals ganz angemeſſen ſeyn kann, nothwendig in der Gefahr über kurz oder lang zu eng befunden und alſo verworfen zu werden oder gar gebraucht zu werden, um ein in ihre Schranken nicht ſich fügendes, auch vor- treffliches Kunſtwerk zu verwerfen. Die Idee jeder Dichtart aber iſt durch die Möglichkeit beſtimmt, die durch ſie erfüllt iſt. Der Begriff, den die Neueren von der Elegie faſt allgemein gehabt haben, iſt, daß ſie Klaggedichte ſeyen, ihr herrſchender Geiſt empfindſame Trauer. Es iſt nicht zu leugnen, daß auch die Klage und die Trauer ſich in dieſer Dichtart ausgeſprochen hat, und daß die Elegie vorzüglich zu Klaggeſängen über Verſtorbene beſtimmt war. Dieß aber iſt nur Eine Erſcheinungsweiſe, übrigens aber von unendlicher Mannichfaltigkeit und Bildſamkeit und ſo, daß dieſe Eine Gattung, obwohl allerdings nur bruchſtücklich, das ganze Leben zu umfaſſen fähig iſt. Die Elegie iſt, als Art des epiſchen Gedichts, ihrer Natur nach geſchichtlich; auch als Klaggeſang verleugnet ſie ihren Charakter nicht, ja ſie iſt, könnte man ſagen, der Trauer fähig eben nur, weil ſie des Blicks in die Vergangenheit fähig iſt, wie das Epos. Uebrigens weilt ſie ebenſo beſtimmt in der Gegenwart, und beſingt die befriedigte Sehnſucht nicht minder als den Stachel der unbefriedigten. Ihre Grenze in der Darſtellung iſt ihr nicht durch den individuellen und einzelnen Zu- ſtand geſteckt, ſondern ſie ſchweift von da wirklich in den epiſchen Kreis aus. Die Elegie iſt durch ihre Natur ſchon eine der unbegrenzbarſten Gattungen, daher ſich außer dem allgemeinen Charakter, der durch ihr Verhältniß zum Epos und zur Idylle beſtimmt iſt, nur eben dieſe un- endliche Bildſamkeit als ihr eigenthümlichſtes und natürlichſtes Weſen bezeichnen läßt. Die unmittelbarſte Bekanntſchaft mit dem Geiſt der Elegie gewinnt man durch die Muſter der Alten. Einige der ſchönſten Bruchſtücke des Phanokles, des Hermeſianax ſind im Athenäum über- ſetzt. Die Elegie hat aber auch in der römiſchen Sprache in Tibull, Catull und Properz wieder aufleben können, und zu unſeren Zeiten hat Goethe durch ſeine römiſchen Elegien die ächte Gattung wiederher-

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 660. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/336>, abgerufen am 27.04.2024.