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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 3, Abt. 1. Leipzig, 1895.

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§ 23. Einleitung in Dedekind's Theorie der Ketten.
gebers einer mathematischen Zeitschrift, Herrn R. Hoppe, der in Dede-
kind'
s Schrift wesentlich nur eine "geistige Gymnastik" erblickt, und dem
"was der Verfasser mit dem Ganzen hat erreichen wollen" "durchaus
dunkel" geblieben.

Desgleichen sind die Errungenschaften, die wir darin Herrn Dede-
kind
verdanken, von philosophischer oder zur Philosophie sich bekennender
Seite (Frege5, Husserl3) wol bei weitem noch nicht ausreichend berück-
sichtigt und gewürdigt worden. Es wird dem Verf. deshalb zur Genug-
thuung gereichen, jene soviel an ihm ist in das rechte Licht stellen zu
dürfen.

Um die Tendenz der Arbeit des Herrn Dedekind zu kennzeichnen,
geben wir zunächst ihm selbst das Wort.

"Was beweisbar ist, soll in der Wissenschaft nicht ohne Beweis
geglaubt werden. So einleuchtend diese Forderung erscheint, so ist
sie doch, wie ich glaube, selbst bei der Begründung der einfachsten
Wissenschaft, nämlich desjenigen Teiles der Logik, welcher die Lehre
von den Zahlen behandelt, auch nach den neuesten Darstellungen*)
noch keineswegs als erfüllt anzusehen. Indem ich die Arithmetik
(Algebra, Analysis) nur einen Teil der Logik nenne, spreche ich schon
aus, dass ich den Zahlbegriff für gänzlich unabhängig von den Vor-
stellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit, dass ich ihn
vielmehr für einen unmittelbaren Ausfluss der reinen Denkgesetze
halte. Meine Hauptantwort auf die im Titel dieser Schrift gestellte
Frage lautet: die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen
Geistes, sie dienen als ein Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge
leichter und schärfer aufzufassen. Durch den rein logischen Aufbau
der Zahlen-Wissenschaft und durch das in ihr gewonnene stetige Zahlen-
Reich sind wir erst in den Stand gesetzt, unsre Vorstellungen von
Raum und Zeit genau zu untersuchen, indem wir dieselben auf dieses
in unserm Geiste geschaffene Zahlen-Reich beziehen.**) Verfolgt man
genau
, was wir beim Zählen der Menge oder Anzahl von Dingen thun,
so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit des Geistes geführt,

*) Verweis auf des Verfassers Lehrbuch der Arithmetik und Algebra 1 und
auf die Abhandlungen von Kronecker und Helmholtz über den Zahlbegiff und
über Zählen und Messen in der Sammlung der an E. Zeller gerichteten philo-
sophischen Aufsätze, Leipzig 1887. "Das Erscheinen dieser Abhandlungen ist die
Veranlassung, welche mich bewogen hat, nun auch mit meiner, in manchen Be-
ziehungen ähnlichen, aber durch ihre Begründung doch wesentlich verschiedenen
Auffassung hervorzutreten, die ich mir seit vielen Jahren und ohne jede Beein-
flussung von irgendwelcher Seite gebildet habe."
**) Hinweis auf § 3 von Herrn Dedekind's Schrift2 über Stetigkeit und irra-
tionale Zahlen.

§ 23. Einleitung in Dedekind’s Theorie der Ketten.
gebers einer mathematischen Zeitschrift, Herrn R. Hoppe, der in Dede-
kind’
s Schrift wesentlich nur eine „geistige Gymnastik“ erblickt, und dem
„was der Verfasser mit dem Ganzen hat erreichen wollen“ „durchaus
dunkel“ geblieben.

Desgleichen sind die Errungenschaften, die wir darin Herrn Dede-
kind
verdanken, von philosophischer oder zur Philosophie sich bekennender
Seite (Frege5, Husserl3) wol bei weitem noch nicht ausreichend berück-
sichtigt und gewürdigt worden. Es wird dem Verf. deshalb zur Genug-
thuung gereichen, jene soviel an ihm ist in das rechte Licht stellen zu
dürfen.

Um die Tendenz der Arbeit des Herrn Dedekind zu kennzeichnen,
geben wir zunächst ihm selbst das Wort.

»Was beweisbar ist, soll in der Wissenschaft nicht ohne Beweis
geglaubt werden. So einleuchtend diese Forderung erscheint, so ist
sie doch, wie ich glaube, selbst bei der Begründung der einfachsten
Wissenschaft, nämlich desjenigen Teiles der Logik, welcher die Lehre
von den Zahlen behandelt, auch nach den neuesten Darstellungen*)
noch keineswegs als erfüllt anzusehen. Indem ich die Arithmetik
(Algebra, Analysis) nur einen Teil der Logik nenne, spreche ich schon
aus, dass ich den Zahlbegriff für gänzlich unabhängig von den Vor-
stellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit, dass ich ihn
vielmehr für einen unmittelbaren Ausfluss der reinen Denkgesetze
halte. Meine Hauptantwort auf die im Titel dieser Schrift gestellte
Frage lautet: die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen
Geistes, sie dienen als ein Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge
leichter und schärfer aufzufassen. Durch den rein logischen Aufbau
der Zahlen-Wissenschaft und durch das in ihr gewonnene stetige Zahlen-
Reich sind wir erst in den Stand gesetzt, unsre Vorstellungen von
Raum und Zeit genau zu untersuchen, indem wir dieselben auf dieses
in unserm Geiste geschaffene Zahlen-Reich beziehen.**) Verfolgt man
genau
, was wir beim Zählen der Menge oder Anzahl von Dingen thun,
so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit des Geistes geführt,

*) Verweis auf des Verfassers Lehrbuch der Arithmetik und Algebra 1 und
auf die Abhandlungen von Kronecker und Helmholtz über den Zahlbegiff und
über Zählen und Messen in der Sammlung der an E. Zeller gerichteten philo-
sophischen Aufsätze, Leipzig 1887. »Das Erscheinen dieser Abhandlungen ist die
Veranlassung, welche mich bewogen hat, nun auch mit meiner, in manchen Be-
ziehungen ähnlichen, aber durch ihre Begründung doch wesentlich verschiedenen
Auffassung hervorzutreten, die ich mir seit vielen Jahren und ohne jede Beein-
flussung von irgendwelcher Seite gebildet habe.«
**) Hinweis auf § 3 von Herrn Dedekind’s Schrift2 über Stetigkeit und irra-
tionale Zahlen.
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[347/0361] § 23. Einleitung in Dedekind’s Theorie der Ketten. gebers einer mathematischen Zeitschrift, Herrn R. Hoppe, der in Dede- kind’s Schrift wesentlich nur eine „geistige Gymnastik“ erblickt, und dem „was der Verfasser mit dem Ganzen hat erreichen wollen“ „durchaus dunkel“ geblieben. Desgleichen sind die Errungenschaften, die wir darin Herrn Dede- kind verdanken, von philosophischer oder zur Philosophie sich bekennender Seite (Frege5, Husserl3) wol bei weitem noch nicht ausreichend berück- sichtigt und gewürdigt worden. Es wird dem Verf. deshalb zur Genug- thuung gereichen, jene soviel an ihm ist in das rechte Licht stellen zu dürfen. Um die Tendenz der Arbeit des Herrn Dedekind zu kennzeichnen, geben wir zunächst ihm selbst das Wort. »Was beweisbar ist, soll in der Wissenschaft nicht ohne Beweis geglaubt werden. So einleuchtend diese Forderung erscheint, so ist sie doch, wie ich glaube, selbst bei der Begründung der einfachsten Wissenschaft, nämlich desjenigen Teiles der Logik, welcher die Lehre von den Zahlen behandelt, auch nach den neuesten Darstellungen *) noch keineswegs als erfüllt anzusehen. Indem ich die Arithmetik (Algebra, Analysis) nur einen Teil der Logik nenne, spreche ich schon aus, dass ich den Zahlbegriff für gänzlich unabhängig von den Vor- stellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit, dass ich ihn vielmehr für einen unmittelbaren Ausfluss der reinen Denkgesetze halte. Meine Hauptantwort auf die im Titel dieser Schrift gestellte Frage lautet: die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als ein Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen. Durch den rein logischen Aufbau der Zahlen-Wissenschaft und durch das in ihr gewonnene stetige Zahlen- Reich sind wir erst in den Stand gesetzt, unsre Vorstellungen von Raum und Zeit genau zu untersuchen, indem wir dieselben auf dieses in unserm Geiste geschaffene Zahlen-Reich beziehen. **) Verfolgt man genau, was wir beim Zählen der Menge oder Anzahl von Dingen thun, so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit des Geistes geführt, *) Verweis auf des Verfassers Lehrbuch der Arithmetik und Algebra 1 und auf die Abhandlungen von Kronecker und Helmholtz über den Zahlbegiff und über Zählen und Messen in der Sammlung der an E. Zeller gerichteten philo- sophischen Aufsätze, Leipzig 1887. »Das Erscheinen dieser Abhandlungen ist die Veranlassung, welche mich bewogen hat, nun auch mit meiner, in manchen Be- ziehungen ähnlichen, aber durch ihre Begründung doch wesentlich verschiedenen Auffassung hervorzutreten, die ich mir seit vielen Jahren und ohne jede Beein- flussung von irgendwelcher Seite gebildet habe.« **) Hinweis auf § 3 von Herrn Dedekind’s Schrift2 über Stetigkeit und irra- tionale Zahlen.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 3, Abt. 1. Leipzig, 1895, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik03_1895/361>, abgerufen am 26.04.2024.