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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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und verjage den Neptunus! Rhökus soll dem Sonnen¬
gotte die Zügel entreissen, Porphyrion das Orakel zu
Delphi erobern!" Die Riesen jubelten bei diesen Worten
auf, als hätten sie den Sieg schon errungen, als schlepp¬
ten sie schon den Neptunus oder den Mars im Triumphe
daher, und zögen den Apollo am herrlichen Lockenhaar;
der eine nannte schon Venus sein Weib, ein andrer
wollte Diana, ein dritter Minerva freien. So zogen sie
den thessalischen Bergen zu, um von dort aus den Him¬
mel zu stürmen.

Indessen rief Iris, die Götterbotin, alle Himmlischen
zusammen, alle Götter, die in Wasser und Flüssen woh¬
nen; selbst die Manen aus der Unterwelt rief sie herauf;
Proserpina verließ ihr schattiges Reich, und ihr Gemahl,
der König der Schweigenden, fuhr mit seinen lichtscheuen
Rossen zum strahlenden Olympus empor. Wie in einer
belagerten Stadt die Bewohner von allen Seiten zusammen¬
laufen, ihre Burg zu schirmen, so kamen die vielgestalteten
Gottheiten am Vaterheerde zusammen. "Versammelte Göt¬
ter," redete sie Jupiter an, "ihr sehet, wie die Mutter Erde
mit einer neuen Brut sich gegen uns verschworen hat. Auf,
und sendet ihr so viele Leichen hinunter, als sie uns Söhne
herauf schickt!" Als der Göttervater ausgesprochen, ertönte
die Wetterposaune vom Himmel, und Gäa drunten antwor¬
tete mit einem donnernden Erdbeben. Die Natur gerieth
ln Verwirrung, wie bei der ersten Schöpfung, denn die
Giganten rißen einen Berg nach dem andern aus seinen
Wurzeln, schleppten den Ossa, den Pelion, den Oeta,
den Athos herbei, brachen den Rhodope mit der Hälfte
des Hebrusquelles ab, und auf dieser Leiter von Gebir¬
gen zum Göttersitz emporgeklommen, fingen sie an, mit

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und verjage den Neptunus! Rhökus ſoll dem Sonnen¬
gotte die Zügel entreiſſen, Porphyrion das Orakel zu
Delphi erobern!“ Die Rieſen jubelten bei dieſen Worten
auf, als hätten ſie den Sieg ſchon errungen, als ſchlepp¬
ten ſie ſchon den Neptunus oder den Mars im Triumphe
daher, und zögen den Apollo am herrlichen Lockenhaar;
der eine nannte ſchon Venus ſein Weib, ein andrer
wollte Diana, ein dritter Minerva freien. So zogen ſie
den theſſaliſchen Bergen zu, um von dort aus den Him¬
mel zu ſtürmen.

Indeſſen rief Iris, die Götterbotin, alle Himmliſchen
zuſammen, alle Götter, die in Waſſer und Flüſſen woh¬
nen; ſelbſt die Manen aus der Unterwelt rief ſie herauf;
Proſerpina verließ ihr ſchattiges Reich, und ihr Gemahl,
der König der Schweigenden, fuhr mit ſeinen lichtſcheuen
Roſſen zum ſtrahlenden Olympus empor. Wie in einer
belagerten Stadt die Bewohner von allen Seiten zuſammen¬
laufen, ihre Burg zu ſchirmen, ſo kamen die vielgeſtalteten
Gottheiten am Vaterheerde zuſammen. „Verſammelte Göt¬
ter,“ redete ſie Jupiter an, „ihr ſehet, wie die Mutter Erde
mit einer neuen Brut ſich gegen uns verſchworen hat. Auf,
und ſendet ihr ſo viele Leichen hinunter, als ſie uns Söhne
herauf ſchickt!“ Als der Göttervater ausgeſprochen, ertönte
die Wetterpoſaune vom Himmel, und Gäa drunten antwor¬
tete mit einem donnernden Erdbeben. Die Natur gerieth
ln Verwirrung, wie bei der erſten Schöpfung, denn die
Giganten rißen einen Berg nach dem andern aus ſeinen
Wurzeln, ſchleppten den Oſſa, den Pelion, den Oeta,
den Athos herbei, brachen den Rhodope mit der Hälfte
des Hebrusquelles ab, und auf dieſer Leiter von Gebir¬
gen zum Götterſitz emporgeklommen, fingen ſie an, mit

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[211/0237] und verjage den Neptunus! Rhökus ſoll dem Sonnen¬ gotte die Zügel entreiſſen, Porphyrion das Orakel zu Delphi erobern!“ Die Rieſen jubelten bei dieſen Worten auf, als hätten ſie den Sieg ſchon errungen, als ſchlepp¬ ten ſie ſchon den Neptunus oder den Mars im Triumphe daher, und zögen den Apollo am herrlichen Lockenhaar; der eine nannte ſchon Venus ſein Weib, ein andrer wollte Diana, ein dritter Minerva freien. So zogen ſie den theſſaliſchen Bergen zu, um von dort aus den Him¬ mel zu ſtürmen. Indeſſen rief Iris, die Götterbotin, alle Himmliſchen zuſammen, alle Götter, die in Waſſer und Flüſſen woh¬ nen; ſelbſt die Manen aus der Unterwelt rief ſie herauf; Proſerpina verließ ihr ſchattiges Reich, und ihr Gemahl, der König der Schweigenden, fuhr mit ſeinen lichtſcheuen Roſſen zum ſtrahlenden Olympus empor. Wie in einer belagerten Stadt die Bewohner von allen Seiten zuſammen¬ laufen, ihre Burg zu ſchirmen, ſo kamen die vielgeſtalteten Gottheiten am Vaterheerde zuſammen. „Verſammelte Göt¬ ter,“ redete ſie Jupiter an, „ihr ſehet, wie die Mutter Erde mit einer neuen Brut ſich gegen uns verſchworen hat. Auf, und ſendet ihr ſo viele Leichen hinunter, als ſie uns Söhne herauf ſchickt!“ Als der Göttervater ausgeſprochen, ertönte die Wetterpoſaune vom Himmel, und Gäa drunten antwor¬ tete mit einem donnernden Erdbeben. Die Natur gerieth ln Verwirrung, wie bei der erſten Schöpfung, denn die Giganten rißen einen Berg nach dem andern aus ſeinen Wurzeln, ſchleppten den Oſſa, den Pelion, den Oeta, den Athos herbei, brachen den Rhodope mit der Hälfte des Hebrusquelles ab, und auf dieſer Leiter von Gebir¬ gen zum Götterſitz emporgeklommen, fingen ſie an, mit 14 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/237>, abgerufen am 26.04.2024.