Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

kunft verzögert sich nur dadurch, daß er auf Euböa's
Vorgebirge Cenäum dem Jupiter das schuldige Dankopfer
darzubringen sich anschickt." Bald erschien der Abgeord¬
nete des Helden, Lichas, und in seinem Geleite die Ge¬
fangenen. "Heil dir, Gemahlin meines Herrn," sprach er
zu Deianira, "die Himmlischen lieben den Frevel nicht;
Herkules gerechte Sache ist gesegnet worden; die üppigen
Prahler mit ihrem verruchten Munde sind alle in den
Hades hinabgeeilt, die Stadt ist in Knechtschaft. Doch
der Gefangenen, die wir hier bringen, sollst du schonen,
läßt dein Gemahl dir sagen, vor allem der unglücklichen
Jungfrau, die sich hier vor deine Füße wirft." Deia¬
nira heftete einen Blick voll tiefen Mitleids auf das
schöne, jugendliche Mädchen, das von Gestalt und Auge
lieblich glänzte, erhob sie vom Boden, und sprach: "Ja
ihr Lieben, herbes Mitgefühl hat mich gefaßt, so oft
ich Unglückselige heimatlos durch fremde Landschaft herum¬
geschleppt, und Freigeborne Sclavenloos dulden sah.
Zeus Ueberwinder, mögest du nie deinen Arm so gegen
mein Haus erheben! Aber wer bist du, jammervolles
Mägdlein? du scheinst unvermählt, und von hohem Stamme!
Sage mir, Lichas, wer sind die Eltern dieser Jungfrau?"
-- "Wie weiß ich das? Weswegen fragst du dieß?"
antwortete der Abgesandte mit verstelltem Sinne und seine
Miene verrieth ein Geheimniß. "Sie ist," fuhr er nach
einigem Zögern fort, "gewiß aus keinem der niedrigsten
Häuser Oechalia's." Da das arme Mädchen selbst nur
seufzte und schwieg, so forschte Deianira auch nicht weiter,
sondern befahl sie in das Haus zu führen, und dort auf das
Schonendste zu behandeln. Während Lichas diesem Befehl
Folge leistete, trat der zuerst angekommene Bote seiner Ge¬

kunft verzögert ſich nur dadurch, daß er auf Euböa's
Vorgebirge Cenäum dem Jupiter das ſchuldige Dankopfer
darzubringen ſich anſchickt.“ Bald erſchien der Abgeord¬
nete des Helden, Lichas, und in ſeinem Geleite die Ge¬
fangenen. „Heil dir, Gemahlin meines Herrn,“ ſprach er
zu Deïanira, „die Himmliſchen lieben den Frevel nicht;
Herkules gerechte Sache iſt geſegnet worden; die üppigen
Prahler mit ihrem verruchten Munde ſind alle in den
Hades hinabgeeilt, die Stadt iſt in Knechtſchaft. Doch
der Gefangenen, die wir hier bringen, ſollſt du ſchonen,
läßt dein Gemahl dir ſagen, vor allem der unglücklichen
Jungfrau, die ſich hier vor deine Füße wirft.“ Deïa¬
nira heftete einen Blick voll tiefen Mitleids auf das
ſchöne, jugendliche Mädchen, das von Geſtalt und Auge
lieblich glänzte, erhob ſie vom Boden, und ſprach: „Ja
ihr Lieben, herbes Mitgefühl hat mich gefaßt, ſo oft
ich Unglückſelige heimatlos durch fremde Landſchaft herum¬
geſchleppt, und Freigeborne Sclavenloos dulden ſah.
Zeus Ueberwinder, mögeſt du nie deinen Arm ſo gegen
mein Haus erheben! Aber wer biſt du, jammervolles
Mägdlein? du ſcheinſt unvermählt, und von hohem Stamme!
Sage mir, Lichas, wer ſind die Eltern dieſer Jungfrau?“
— „Wie weiß ich das? Weswegen fragſt du dieß?“
antwortete der Abgeſandte mit verſtelltem Sinne und ſeine
Miene verrieth ein Geheimniß. „Sie iſt,“ fuhr er nach
einigem Zögern fort, „gewiß aus keinem der niedrigſten
Häuſer Oechalia's.“ Da das arme Mädchen ſelbſt nur
ſeufzte und ſchwieg, ſo forſchte Deïanira auch nicht weiter,
ſondern befahl ſie in das Haus zu führen, und dort auf das
Schonendſte zu behandeln. Während Lichas dieſem Befehl
Folge leiſtete, trat der zuerſt angekommene Bote ſeiner Ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0287" n="261"/>
kunft verzögert &#x017F;ich nur dadurch, daß er auf Euböa's<lb/>
Vorgebirge Cenäum dem Jupiter das &#x017F;chuldige Dankopfer<lb/>
darzubringen &#x017F;ich an&#x017F;chickt.&#x201C; Bald er&#x017F;chien der Abgeord¬<lb/>
nete des Helden, Lichas, und in &#x017F;einem Geleite die Ge¬<lb/>
fangenen. &#x201E;Heil dir, Gemahlin meines Herrn,&#x201C; &#x017F;prach er<lb/>
zu Deïanira, &#x201E;die Himmli&#x017F;chen lieben den Frevel nicht;<lb/>
Herkules gerechte Sache i&#x017F;t ge&#x017F;egnet worden; die üppigen<lb/>
Prahler mit ihrem verruchten Munde &#x017F;ind alle in den<lb/>
Hades hinabgeeilt, die Stadt i&#x017F;t in Knecht&#x017F;chaft. Doch<lb/>
der Gefangenen, die wir hier bringen, &#x017F;oll&#x017F;t du &#x017F;chonen,<lb/>
läßt dein Gemahl dir &#x017F;agen, vor allem der unglücklichen<lb/>
Jungfrau, die &#x017F;ich hier vor deine Füße wirft.&#x201C; Deïa¬<lb/>
nira heftete einen Blick voll tiefen Mitleids auf das<lb/>
&#x017F;chöne, jugendliche Mädchen, das von Ge&#x017F;talt und Auge<lb/>
lieblich glänzte, erhob &#x017F;ie vom Boden, und &#x017F;prach: &#x201E;Ja<lb/>
ihr Lieben, herbes Mitgefühl hat mich gefaßt, &#x017F;o oft<lb/>
ich Unglück&#x017F;elige heimatlos durch fremde Land&#x017F;chaft herum¬<lb/>
ge&#x017F;chleppt, und Freigeborne Sclavenloos dulden &#x017F;ah.<lb/>
Zeus Ueberwinder, möge&#x017F;t du nie deinen Arm &#x017F;o gegen<lb/>
mein Haus erheben! Aber wer bi&#x017F;t du, jammervolles<lb/>
Mägdlein? du &#x017F;chein&#x017F;t unvermählt, und von hohem Stamme!<lb/>
Sage mir, Lichas, wer &#x017F;ind die Eltern die&#x017F;er Jungfrau?&#x201C;<lb/>
&#x2014; &#x201E;Wie weiß ich das? Weswegen frag&#x017F;t du dieß?&#x201C;<lb/>
antwortete der Abge&#x017F;andte mit ver&#x017F;telltem Sinne und &#x017F;eine<lb/>
Miene verrieth ein Geheimniß. &#x201E;Sie i&#x017F;t,&#x201C; fuhr er nach<lb/>
einigem Zögern fort, &#x201E;gewiß aus keinem der niedrig&#x017F;ten<lb/>
Häu&#x017F;er Oechalia's.&#x201C; Da das arme Mädchen &#x017F;elb&#x017F;t nur<lb/>
&#x017F;eufzte und &#x017F;chwieg, &#x017F;o for&#x017F;chte Deïanira auch nicht weiter,<lb/>
&#x017F;ondern befahl &#x017F;ie in das Haus zu führen, und dort auf das<lb/>
Schonend&#x017F;te zu behandeln. Während Lichas die&#x017F;em Befehl<lb/>
Folge lei&#x017F;tete, trat der zuer&#x017F;t angekommene Bote &#x017F;einer Ge¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[261/0287] kunft verzögert ſich nur dadurch, daß er auf Euböa's Vorgebirge Cenäum dem Jupiter das ſchuldige Dankopfer darzubringen ſich anſchickt.“ Bald erſchien der Abgeord¬ nete des Helden, Lichas, und in ſeinem Geleite die Ge¬ fangenen. „Heil dir, Gemahlin meines Herrn,“ ſprach er zu Deïanira, „die Himmliſchen lieben den Frevel nicht; Herkules gerechte Sache iſt geſegnet worden; die üppigen Prahler mit ihrem verruchten Munde ſind alle in den Hades hinabgeeilt, die Stadt iſt in Knechtſchaft. Doch der Gefangenen, die wir hier bringen, ſollſt du ſchonen, läßt dein Gemahl dir ſagen, vor allem der unglücklichen Jungfrau, die ſich hier vor deine Füße wirft.“ Deïa¬ nira heftete einen Blick voll tiefen Mitleids auf das ſchöne, jugendliche Mädchen, das von Geſtalt und Auge lieblich glänzte, erhob ſie vom Boden, und ſprach: „Ja ihr Lieben, herbes Mitgefühl hat mich gefaßt, ſo oft ich Unglückſelige heimatlos durch fremde Landſchaft herum¬ geſchleppt, und Freigeborne Sclavenloos dulden ſah. Zeus Ueberwinder, mögeſt du nie deinen Arm ſo gegen mein Haus erheben! Aber wer biſt du, jammervolles Mägdlein? du ſcheinſt unvermählt, und von hohem Stamme! Sage mir, Lichas, wer ſind die Eltern dieſer Jungfrau?“ — „Wie weiß ich das? Weswegen fragſt du dieß?“ antwortete der Abgeſandte mit verſtelltem Sinne und ſeine Miene verrieth ein Geheimniß. „Sie iſt,“ fuhr er nach einigem Zögern fort, „gewiß aus keinem der niedrigſten Häuſer Oechalia's.“ Da das arme Mädchen ſelbſt nur ſeufzte und ſchwieg, ſo forſchte Deïanira auch nicht weiter, ſondern befahl ſie in das Haus zu führen, und dort auf das Schonendſte zu behandeln. Während Lichas dieſem Befehl Folge leiſtete, trat der zuerſt angekommene Bote ſeiner Ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/287
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/287>, abgerufen am 26.04.2024.