Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Gott Bacchus im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm
vom Schicksal bestimmte Braut sey, und drohte ihm alles
Unheil, wenn Theseus die Geliebte nicht ihm überlassen
würde. Theseus war von seinem Großvater in Götter¬
furcht erzogen worden: er scheute den Zorn des Gottes,
ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf
der einsamen Insel zurück und schiffte weiter. In
der Nacht erschien Ariadne's rechter Bräutigam, Bac¬
chus, und entführte sie auf den Berg Drios; dort ver¬
schwand zuerst der Gott, bald darauf ward auch Ariadne
unsichtbar. Theseus und seine Gefährten waren über den
Raub der Jungfrau tief betrübt. In ihrer Traurigkeit
vergaßen sie, daß ihr Schiff noch die schwarzen Segel
aufgezogen hatte, mit welchen es die attische Küste ver¬
lassen; sie unterließen es, dem Befehle des Aegeus zu
folge die weißen Tücher aufzuspannen und das Schiff
flog in seiner schwarzen Trauertracht der Heimathküste
entgegen. Aegeus befand sich eben an der Küste als das
schwarze Schiff herangesegelt kam, und genoß von einem
Felsenvorsprunge die Aussicht auf die offene See. Aus
der Farbe der Segel schloß er, daß sein Sohn todt sey. --
Da erhub er sich von dem Felsen, auf dem er saß, und
im unbegränzten Schmerze des Lebens überdrüssig, stürzte
er sich in die jähe Tiefe. Indessen war Theseus gelan¬
det und, nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht
hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, schickte
er einen Herold in die Stadt, die Rettung der sieben
Jünglinge und sieben Jungfrauen und seine eigene zu
verkündigen. Der Bote wußte nicht, was er von dem
Empfange denken sollte, der ihm in der Stadt zu Theil
ward. Während die Einen ihn voll Freude bewillkommten

Schwab, das klass. Alterthum I. 19

Gott Bacchus im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm
vom Schickſal beſtimmte Braut ſey, und drohte ihm alles
Unheil, wenn Theſeus die Geliebte nicht ihm überlaſſen
würde. Theſeus war von ſeinem Großvater in Götter¬
furcht erzogen worden: er ſcheute den Zorn des Gottes,
ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf
der einſamen Inſel zurück und ſchiffte weiter. In
der Nacht erſchien Ariadne's rechter Bräutigam, Bac¬
chus, und entführte ſie auf den Berg Drios; dort ver¬
ſchwand zuerſt der Gott, bald darauf ward auch Ariadne
unſichtbar. Theſeus und ſeine Gefährten waren über den
Raub der Jungfrau tief betrübt. In ihrer Traurigkeit
vergaßen ſie, daß ihr Schiff noch die ſchwarzen Segel
aufgezogen hatte, mit welchen es die attiſche Küſte ver¬
laſſen; ſie unterließen es, dem Befehle des Aegeus zu
folge die weißen Tücher aufzuſpannen und das Schiff
flog in ſeiner ſchwarzen Trauertracht der Heimathküſte
entgegen. Aegeus befand ſich eben an der Küſte als das
ſchwarze Schiff herangeſegelt kam, und genoß von einem
Felſenvorſprunge die Ausſicht auf die offene See. Aus
der Farbe der Segel ſchloß er, daß ſein Sohn todt ſey. —
Da erhub er ſich von dem Felſen, auf dem er ſaß, und
im unbegränzten Schmerze des Lebens überdrüſſig, ſtürzte
er ſich in die jähe Tiefe. Indeſſen war Theſeus gelan¬
det und, nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht
hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, ſchickte
er einen Herold in die Stadt, die Rettung der ſieben
Jünglinge und ſieben Jungfrauen und ſeine eigene zu
verkündigen. Der Bote wußte nicht, was er von dem
Empfange denken ſollte, der ihm in der Stadt zu Theil
ward. Während die Einen ihn voll Freude bewillkommten

Schwab, das klaſſ. Alterthum I. 19
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0315" n="289"/>
Gott Bacchus im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm<lb/>
vom Schick&#x017F;al be&#x017F;timmte Braut &#x017F;ey, und drohte ihm alles<lb/>
Unheil, wenn The&#x017F;eus die Geliebte nicht ihm überla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
würde. The&#x017F;eus war von &#x017F;einem Großvater in Götter¬<lb/>
furcht erzogen worden: er &#x017F;cheute den Zorn des Gottes,<lb/>
ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf<lb/>
der ein&#x017F;amen In&#x017F;el zurück und &#x017F;chiffte weiter. In<lb/>
der Nacht er&#x017F;chien Ariadne's rechter Bräutigam, Bac¬<lb/>
chus, und entführte &#x017F;ie auf den Berg Drios; dort ver¬<lb/>
&#x017F;chwand zuer&#x017F;t der Gott, bald darauf ward auch Ariadne<lb/>
un&#x017F;ichtbar. The&#x017F;eus und &#x017F;eine Gefährten waren über den<lb/>
Raub der Jungfrau tief betrübt. In ihrer Traurigkeit<lb/>
vergaßen &#x017F;ie, daß ihr Schiff noch die &#x017F;chwarzen Segel<lb/>
aufgezogen hatte, mit welchen es die atti&#x017F;che Kü&#x017F;te ver¬<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en; &#x017F;ie unterließen es, dem Befehle des Aegeus zu<lb/>
folge die weißen Tücher aufzu&#x017F;pannen und das Schiff<lb/>
flog in &#x017F;einer &#x017F;chwarzen Trauertracht der Heimathkü&#x017F;te<lb/>
entgegen. Aegeus befand &#x017F;ich eben an der Kü&#x017F;te als das<lb/>
&#x017F;chwarze Schiff herange&#x017F;egelt kam, und genoß von einem<lb/>
Fel&#x017F;envor&#x017F;prunge die Aus&#x017F;icht auf die offene See. Aus<lb/>
der Farbe der Segel &#x017F;chloß er, daß &#x017F;ein Sohn todt &#x017F;ey. &#x2014;<lb/>
Da erhub er &#x017F;ich von dem Fel&#x017F;en, auf dem er &#x017F;aß, und<lb/>
im unbegränzten Schmerze des Lebens überdrü&#x017F;&#x017F;ig, &#x017F;türzte<lb/>
er &#x017F;ich in die jähe Tiefe. Inde&#x017F;&#x017F;en war The&#x017F;eus gelan¬<lb/>
det und, nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht<lb/>
hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, &#x017F;chickte<lb/>
er einen Herold in die Stadt, die Rettung der &#x017F;ieben<lb/>
Jünglinge und &#x017F;ieben Jungfrauen und &#x017F;eine eigene zu<lb/>
verkündigen. Der Bote wußte nicht, was er von dem<lb/>
Empfange denken &#x017F;ollte, der ihm in der Stadt zu Theil<lb/>
ward. Während die Einen ihn voll Freude bewillkommten<lb/>
<fw type="sig" place="bottom">Schwab, das kla&#x017F;&#x017F;. Alterthum <hi rendition="#aq">I</hi>. 19<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[289/0315] Gott Bacchus im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm vom Schickſal beſtimmte Braut ſey, und drohte ihm alles Unheil, wenn Theſeus die Geliebte nicht ihm überlaſſen würde. Theſeus war von ſeinem Großvater in Götter¬ furcht erzogen worden: er ſcheute den Zorn des Gottes, ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf der einſamen Inſel zurück und ſchiffte weiter. In der Nacht erſchien Ariadne's rechter Bräutigam, Bac¬ chus, und entführte ſie auf den Berg Drios; dort ver¬ ſchwand zuerſt der Gott, bald darauf ward auch Ariadne unſichtbar. Theſeus und ſeine Gefährten waren über den Raub der Jungfrau tief betrübt. In ihrer Traurigkeit vergaßen ſie, daß ihr Schiff noch die ſchwarzen Segel aufgezogen hatte, mit welchen es die attiſche Küſte ver¬ laſſen; ſie unterließen es, dem Befehle des Aegeus zu folge die weißen Tücher aufzuſpannen und das Schiff flog in ſeiner ſchwarzen Trauertracht der Heimathküſte entgegen. Aegeus befand ſich eben an der Küſte als das ſchwarze Schiff herangeſegelt kam, und genoß von einem Felſenvorſprunge die Ausſicht auf die offene See. Aus der Farbe der Segel ſchloß er, daß ſein Sohn todt ſey. — Da erhub er ſich von dem Felſen, auf dem er ſaß, und im unbegränzten Schmerze des Lebens überdrüſſig, ſtürzte er ſich in die jähe Tiefe. Indeſſen war Theſeus gelan¬ det und, nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, ſchickte er einen Herold in die Stadt, die Rettung der ſieben Jünglinge und ſieben Jungfrauen und ſeine eigene zu verkündigen. Der Bote wußte nicht, was er von dem Empfange denken ſollte, der ihm in der Stadt zu Theil ward. Während die Einen ihn voll Freude bewillkommten Schwab, das klaſſ. Alterthum I. 19

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/315
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/315>, abgerufen am 10.05.2024.