Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Volk, oder liegst du mit Brüdern im Streite, oder gibst
du dich von freien Stücken so tief herunter? Wär' ich
so jung wie du und der Sohn des Odysseus, oder gar
er selber -- käme zurück (denn noch ist ja die Hoffnung
dazu noch nicht ganz verloren!) eher sollte mir ein Frem¬
der den Kopf von der Schulter hauen, ja lieber wollte
ich in meinem eigenen Hause sterben, als daß ich so
schändliche Thaten länger mit anschaute!"

Darauf antwortete Telemach: "Nein, lieber Gast,
das Volk haßt mich nicht; auch habe ich keine Brüder,
die mich anfeindeten, ich bin das einzige Kind im Hause;
aber feindselig gesinnte Männer von allen Inseln umher
und von Ithaka selbst werben in Unzahl um meine Mut¬
ter. Sie weicht ihnen aus, ohne ihnen wehren zu kön¬
nen, und in Kurzem wird mein Haus und Gut verwü¬
stet seyn." Dann wandte er sich zu dem Sauhirten
und sprach: "Du aber, Väterchen, thu' mir den Gefal¬
len und eile hinein in die Stadt zu Penelope meiner
Mutter, und sag' ihr, daß ich da bin, doch so, daß
es ja kein Freier vernimmt." "Soll ich," fragte Eu¬
mäus, "nicht den Umweg über deinen Großvater Laertes
machen, und ihm deine Heimkehr auch zu wissen thun?
Seitdem du nach Pylos gefahren bist, erzählen sie, habe
er keine Speise und keinen Trank mehr genossen, und
nicht mehr nach den Feldarbeiten gesehen, in beständiger
Betrübniß sitze er dort, von den Gliedern schwinde ihm
das Fleisch." "So betrübt es ist," antwortete Telemach,
"so kann ich dich doch den Umweg nicht machen lassen.
Nicht bald genug kann mir die Mutter wissen, daß ich
wieder gekommen bin!" So sprach er und trieb den
Diener an. Der Sauhirt langte sich seine Sohlen

Volk, oder liegſt du mit Brüdern im Streite, oder gibſt
du dich von freien Stücken ſo tief herunter? Wär' ich
ſo jung wie du und der Sohn des Odyſſeus, oder gar
er ſelber — käme zurück (denn noch iſt ja die Hoffnung
dazu noch nicht ganz verloren!) eher ſollte mir ein Frem¬
der den Kopf von der Schulter hauen, ja lieber wollte
ich in meinem eigenen Hauſe ſterben, als daß ich ſo
ſchändliche Thaten länger mit anſchaute!“

Darauf antwortete Telemach: „Nein, lieber Gaſt,
das Volk haßt mich nicht; auch habe ich keine Brüder,
die mich anfeindeten, ich bin das einzige Kind im Hauſe;
aber feindſelig geſinnte Männer von allen Inſeln umher
und von Ithaka ſelbſt werben in Unzahl um meine Mut¬
ter. Sie weicht ihnen aus, ohne ihnen wehren zu kön¬
nen, und in Kurzem wird mein Haus und Gut verwü¬
ſtet ſeyn.“ Dann wandte er ſich zu dem Sauhirten
und ſprach: „Du aber, Väterchen, thu' mir den Gefal¬
len und eile hinein in die Stadt zu Penelope meiner
Mutter, und ſag' ihr, daß ich da bin, doch ſo, daß
es ja kein Freier vernimmt.“ „Soll ich,“ fragte Eu¬
mäus, „nicht den Umweg über deinen Großvater Laertes
machen, und ihm deine Heimkehr auch zu wiſſen thun?
Seitdem du nach Pylos gefahren biſt, erzählen ſie, habe
er keine Speiſe und keinen Trank mehr genoſſen, und
nicht mehr nach den Feldarbeiten geſehen, in beſtändiger
Betrübniß ſitze er dort, von den Gliedern ſchwinde ihm
das Fleiſch.“ „So betrübt es iſt,“ antwortete Telemach,
„ſo kann ich dich doch den Umweg nicht machen laſſen.
Nicht bald genug kann mir die Mutter wiſſen, daß ich
wieder gekommen bin!“ So ſprach er und trieb den
Diener an. Der Sauhirt langte ſich ſeine Sohlen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0226" n="204"/>
Volk, oder lieg&#x017F;t du mit Brüdern im Streite, oder gib&#x017F;t<lb/>
du dich von freien Stücken &#x017F;o tief herunter? Wär' ich<lb/>
&#x017F;o jung wie du und der Sohn des Ody&#x017F;&#x017F;eus, oder gar<lb/>
er &#x017F;elber &#x2014; käme zurück (denn noch i&#x017F;t ja die Hoffnung<lb/>
dazu noch nicht ganz verloren!) eher &#x017F;ollte mir ein Frem¬<lb/>
der den Kopf von der Schulter hauen, ja lieber wollte<lb/>
ich in meinem eigenen Hau&#x017F;e &#x017F;terben, als daß ich &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chändliche Thaten länger mit an&#x017F;chaute!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Darauf antwortete Telemach: &#x201E;Nein, lieber Ga&#x017F;t,<lb/>
das Volk haßt mich nicht; auch habe ich keine Brüder,<lb/>
die mich anfeindeten, ich bin das einzige Kind im Hau&#x017F;e;<lb/>
aber feind&#x017F;elig ge&#x017F;innte Männer von allen In&#x017F;eln umher<lb/>
und von Ithaka &#x017F;elb&#x017F;t werben in Unzahl um meine Mut¬<lb/>
ter. Sie weicht ihnen aus, ohne ihnen wehren zu kön¬<lb/>
nen, und in Kurzem wird mein Haus und Gut verwü¬<lb/>
&#x017F;tet &#x017F;eyn.&#x201C; Dann wandte er &#x017F;ich zu dem Sauhirten<lb/>
und &#x017F;prach: &#x201E;Du aber, Väterchen, thu' mir den Gefal¬<lb/>
len und eile hinein in die Stadt zu Penelope meiner<lb/>
Mutter, und &#x017F;ag' ihr, daß ich da bin, doch &#x017F;o, daß<lb/>
es ja kein Freier vernimmt.&#x201C; &#x201E;Soll ich,&#x201C; fragte Eu¬<lb/>
mäus, &#x201E;nicht den Umweg über deinen Großvater Laertes<lb/>
machen, und ihm deine Heimkehr auch zu wi&#x017F;&#x017F;en thun?<lb/>
Seitdem du nach Pylos gefahren bi&#x017F;t, erzählen &#x017F;ie, habe<lb/>
er keine Spei&#x017F;e und keinen Trank mehr geno&#x017F;&#x017F;en, und<lb/>
nicht mehr nach den Feldarbeiten ge&#x017F;ehen, in be&#x017F;tändiger<lb/>
Betrübniß &#x017F;itze er dort, von den Gliedern &#x017F;chwinde ihm<lb/>
das Flei&#x017F;ch.&#x201C; &#x201E;So betrübt es i&#x017F;t,&#x201C; antwortete Telemach,<lb/>
&#x201E;&#x017F;o kann ich dich doch den Umweg nicht machen la&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Nicht bald genug kann mir die Mutter wi&#x017F;&#x017F;en, daß ich<lb/>
wieder gekommen bin!&#x201C; So &#x017F;prach er und trieb den<lb/>
Diener an. Der Sauhirt langte &#x017F;ich &#x017F;eine Sohlen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[204/0226] Volk, oder liegſt du mit Brüdern im Streite, oder gibſt du dich von freien Stücken ſo tief herunter? Wär' ich ſo jung wie du und der Sohn des Odyſſeus, oder gar er ſelber — käme zurück (denn noch iſt ja die Hoffnung dazu noch nicht ganz verloren!) eher ſollte mir ein Frem¬ der den Kopf von der Schulter hauen, ja lieber wollte ich in meinem eigenen Hauſe ſterben, als daß ich ſo ſchändliche Thaten länger mit anſchaute!“ Darauf antwortete Telemach: „Nein, lieber Gaſt, das Volk haßt mich nicht; auch habe ich keine Brüder, die mich anfeindeten, ich bin das einzige Kind im Hauſe; aber feindſelig geſinnte Männer von allen Inſeln umher und von Ithaka ſelbſt werben in Unzahl um meine Mut¬ ter. Sie weicht ihnen aus, ohne ihnen wehren zu kön¬ nen, und in Kurzem wird mein Haus und Gut verwü¬ ſtet ſeyn.“ Dann wandte er ſich zu dem Sauhirten und ſprach: „Du aber, Väterchen, thu' mir den Gefal¬ len und eile hinein in die Stadt zu Penelope meiner Mutter, und ſag' ihr, daß ich da bin, doch ſo, daß es ja kein Freier vernimmt.“ „Soll ich,“ fragte Eu¬ mäus, „nicht den Umweg über deinen Großvater Laertes machen, und ihm deine Heimkehr auch zu wiſſen thun? Seitdem du nach Pylos gefahren biſt, erzählen ſie, habe er keine Speiſe und keinen Trank mehr genoſſen, und nicht mehr nach den Feldarbeiten geſehen, in beſtändiger Betrübniß ſitze er dort, von den Gliedern ſchwinde ihm das Fleiſch.“ „So betrübt es iſt,“ antwortete Telemach, „ſo kann ich dich doch den Umweg nicht machen laſſen. Nicht bald genug kann mir die Mutter wiſſen, daß ich wieder gekommen bin!“ So ſprach er und trieb den Diener an. Der Sauhirt langte ſich ſeine Sohlen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/226
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/226>, abgerufen am 26.04.2024.