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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Getreide aus den Schiffen ausgeladen, und das gerettete
Korn mit dem Mühlsteine zermalmt.

Unterdessen erstieg Aeneas klimmend einen Felsen mit
seinem treuen Waffenträger Achates, und ließ oben die
Blicke über die weite Meeresfläche hinschweifen, ob er
nichts von den vom Sturme verschlagenen Schiffen er¬
blicken könnte, vom Antheus, vom Kapys mit den Fahr¬
zeugen der Phrygier, von der Flagge des Kaikus; aber
kein Schiff begegnete seinem Blick: nur drei Hirsche sah
er unten am Strande, denen eine ganze Heerde folgte,
deren Nachzügler bis tief in ein Thal hinein weideten.
Schnell ließ er sich Bogen und Pfeile reichen und streckte
den Führer der Heerde nieder, einen Hirsch mit hochästi¬
gem Geweih; und er ruhte nicht, bis er sieben Thiere
erlegt hatte, soviel als die Zahl seiner Schiffe war.
Dann kehrte er zur Bucht zurück; die Beute ward ein¬
geholt und unter die Freunde vertheilt. Auch stattliche
Krüge mit Wein ließ Aeneas aus den Schiffen herbei¬
holen, die ein Gastfreund an der sicilischen Küste ihm
geschenkt, und mit dem süßen Tranke flößte er Trost in
ihre kummervollen Herzen. "Freunde," sprach er, "sind
wir doch lange mit Trübsal vertraut, selbst mit größerer
als diese gegenwärtige ist, darum laßt uns hoffen, daß
ein Gott auch ihr ein Ende machen werde. Rufet nur
den alten Muth zurück; in später Zeit werdet ihr euch
mit großer Lust an alle diese Leiden erinnern. Denkt
nur daran, daß das Ziel so vieler Noth und Gefahr
Italien ist, daß uns dort unser Geschick ruhige Sitze
zeigt, daß dort ein zweites Troja emporblühen wird!"

Der Held sprach freilich diese Hoffnungsworte mit
kummervollem Herzen, und er mußte seinen tiefen Schmerz

Getreide aus den Schiffen ausgeladen, und das gerettete
Korn mit dem Mühlſteine zermalmt.

Unterdeſſen erſtieg Aeneas klimmend einen Felſen mit
ſeinem treuen Waffenträger Achates, und ließ oben die
Blicke über die weite Meeresfläche hinſchweifen, ob er
nichts von den vom Sturme verſchlagenen Schiffen er¬
blicken könnte, vom Antheus, vom Kapys mit den Fahr¬
zeugen der Phrygier, von der Flagge des Kaikus; aber
kein Schiff begegnete ſeinem Blick: nur drei Hirſche ſah
er unten am Strande, denen eine ganze Heerde folgte,
deren Nachzügler bis tief in ein Thal hinein weideten.
Schnell ließ er ſich Bogen und Pfeile reichen und ſtreckte
den Führer der Heerde nieder, einen Hirſch mit hochäſti¬
gem Geweih; und er ruhte nicht, bis er ſieben Thiere
erlegt hatte, ſoviel als die Zahl ſeiner Schiffe war.
Dann kehrte er zur Bucht zurück; die Beute ward ein¬
geholt und unter die Freunde vertheilt. Auch ſtattliche
Krüge mit Wein ließ Aeneas aus den Schiffen herbei¬
holen, die ein Gaſtfreund an der ſiciliſchen Küſte ihm
geſchenkt, und mit dem ſüßen Tranke flößte er Troſt in
ihre kummervollen Herzen. „Freunde,“ ſprach er, „ſind
wir doch lange mit Trübſal vertraut, ſelbſt mit größerer
als dieſe gegenwärtige iſt, darum laßt uns hoffen, daß
ein Gott auch ihr ein Ende machen werde. Rufet nur
den alten Muth zurück; in ſpäter Zeit werdet ihr euch
mit großer Luſt an alle dieſe Leiden erinnern. Denkt
nur daran, daß das Ziel ſo vieler Noth und Gefahr
Italien iſt, daß uns dort unſer Geſchick ruhige Sitze
zeigt, daß dort ein zweites Troja emporblühen wird!“

Der Held ſprach freilich dieſe Hoffnungsworte mit
kummervollem Herzen, und er mußte ſeinen tiefen Schmerz

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[315/0337] Getreide aus den Schiffen ausgeladen, und das gerettete Korn mit dem Mühlſteine zermalmt. Unterdeſſen erſtieg Aeneas klimmend einen Felſen mit ſeinem treuen Waffenträger Achates, und ließ oben die Blicke über die weite Meeresfläche hinſchweifen, ob er nichts von den vom Sturme verſchlagenen Schiffen er¬ blicken könnte, vom Antheus, vom Kapys mit den Fahr¬ zeugen der Phrygier, von der Flagge des Kaikus; aber kein Schiff begegnete ſeinem Blick: nur drei Hirſche ſah er unten am Strande, denen eine ganze Heerde folgte, deren Nachzügler bis tief in ein Thal hinein weideten. Schnell ließ er ſich Bogen und Pfeile reichen und ſtreckte den Führer der Heerde nieder, einen Hirſch mit hochäſti¬ gem Geweih; und er ruhte nicht, bis er ſieben Thiere erlegt hatte, ſoviel als die Zahl ſeiner Schiffe war. Dann kehrte er zur Bucht zurück; die Beute ward ein¬ geholt und unter die Freunde vertheilt. Auch ſtattliche Krüge mit Wein ließ Aeneas aus den Schiffen herbei¬ holen, die ein Gaſtfreund an der ſiciliſchen Küſte ihm geſchenkt, und mit dem ſüßen Tranke flößte er Troſt in ihre kummervollen Herzen. „Freunde,“ ſprach er, „ſind wir doch lange mit Trübſal vertraut, ſelbſt mit größerer als dieſe gegenwärtige iſt, darum laßt uns hoffen, daß ein Gott auch ihr ein Ende machen werde. Rufet nur den alten Muth zurück; in ſpäter Zeit werdet ihr euch mit großer Luſt an alle dieſe Leiden erinnern. Denkt nur daran, daß das Ziel ſo vieler Noth und Gefahr Italien iſt, daß uns dort unſer Geſchick ruhige Sitze zeigt, daß dort ein zweites Troja emporblühen wird!“ Der Held ſprach freilich dieſe Hoffnungsworte mit kummervollem Herzen, und er mußte ſeinen tiefen Schmerz

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/337>, abgerufen am 27.04.2024.