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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Koras, die Brüder des Tiburtus aus Tibur und viele
Andere; dann kam die Reiterei der Volsker, schimmernd
in Erzpanzern, geführt von ihrer jungfräulichen Fürstin
Kamilla. Diese hatte ihre weiblichen Hände nie an
Minervas Rocken und Webstuhl gewöhnt, im rauhen
Männerkampfe war sie aufgewachsen, auf ihrem flüch¬
tigen Rosse hatte sie mit den Winden in die Wette
laufen gelernt; sie flog so luftig dahin, daß sie
über die Saatflur gesprengt wäre, ohne ein Hälmchen
zu rühren, ohne eine Aehre zu verletzen, und über die
Meerfluth, ohne die Sohlen zu netzen. Alt und Jung
blickte ihr verwundert nach, wie sie mit ihrer Schaar
durch Städte und Dörfer zog, den königlichen Purpur
über die runden Schultern geworfen, das reiche Haar
mit einer goldnen Nadel aufgebunden, Köcher und Bogen
auf der Achsel, und die scharfe Lanze in der Hand.

Diese gewaltigen Kriegsrüstungen erfüllten den
Aeneas und seine Trojaner mit schweren Sorgen. Da
erschien jenem im Traume der Flußgott Tiberinus, und
stieg in meerblauem Kleide, die Haare mit einem Schilf¬
kranze beschattet, zwischen Pappelstauden in Greisenge¬
stalt aus dem Strom empor. "Göttlicher Held," sprach
er, "verzage nicht. Der Groll der Himmlischen gegen
dich ist verschwunden. Damit du nicht wähnest, ein
nichtiges Traumbild zu schauen, will ich dir ein Zeichen
sagen. Unter den Eichen des Ufers wirst du ein großes
Mutterschwein liegend finden, das dreißig Frischlinge ge¬
boren hat: dort ist die Stelle, wo nach dreißig Jahren
dein Sohn Askanius die verheißene Stadt Alba, Roms
Mutterstadt, gründen wird. Für jetzt aber merke, wie
du dich gegen die Gefahr zu schützen hast, die dich

Koras, die Brüder des Tiburtus aus Tibur und viele
Andere; dann kam die Reiterei der Volsker, ſchimmernd
in Erzpanzern, geführt von ihrer jungfräulichen Fürſtin
Kamilla. Dieſe hatte ihre weiblichen Hände nie an
Minervas Rocken und Webſtuhl gewöhnt, im rauhen
Männerkampfe war ſie aufgewachſen, auf ihrem flüch¬
tigen Roſſe hatte ſie mit den Winden in die Wette
laufen gelernt; ſie flog ſo luftig dahin, daß ſie
über die Saatflur geſprengt wäre, ohne ein Hälmchen
zu rühren, ohne eine Aehre zu verletzen, und über die
Meerfluth, ohne die Sohlen zu netzen. Alt und Jung
blickte ihr verwundert nach, wie ſie mit ihrer Schaar
durch Städte und Dörfer zog, den königlichen Purpur
über die runden Schultern geworfen, das reiche Haar
mit einer goldnen Nadel aufgebunden, Köcher und Bogen
auf der Achſel, und die ſcharfe Lanze in der Hand.

Dieſe gewaltigen Kriegsrüſtungen erfüllten den
Aeneas und ſeine Trojaner mit ſchweren Sorgen. Da
erſchien jenem im Traume der Flußgott Tiberinus, und
ſtieg in meerblauem Kleide, die Haare mit einem Schilf¬
kranze beſchattet, zwiſchen Pappelſtauden in Greiſenge¬
ſtalt aus dem Strom empor. „Göttlicher Held,“ ſprach
er, „verzage nicht. Der Groll der Himmliſchen gegen
dich iſt verſchwunden. Damit du nicht wähneſt, ein
nichtiges Traumbild zu ſchauen, will ich dir ein Zeichen
ſagen. Unter den Eichen des Ufers wirſt du ein großes
Mutterſchwein liegend finden, das dreißig Friſchlinge ge¬
boren hat: dort iſt die Stelle, wo nach dreißig Jahren
dein Sohn Askanius die verheißene Stadt Alba, Roms
Mutterſtadt, gründen wird. Für jetzt aber merke, wie
du dich gegen die Gefahr zu ſchützen haſt, die dich

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[362/0384] Koras, die Brüder des Tiburtus aus Tibur und viele Andere; dann kam die Reiterei der Volsker, ſchimmernd in Erzpanzern, geführt von ihrer jungfräulichen Fürſtin Kamilla. Dieſe hatte ihre weiblichen Hände nie an Minervas Rocken und Webſtuhl gewöhnt, im rauhen Männerkampfe war ſie aufgewachſen, auf ihrem flüch¬ tigen Roſſe hatte ſie mit den Winden in die Wette laufen gelernt; ſie flog ſo luftig dahin, daß ſie über die Saatflur geſprengt wäre, ohne ein Hälmchen zu rühren, ohne eine Aehre zu verletzen, und über die Meerfluth, ohne die Sohlen zu netzen. Alt und Jung blickte ihr verwundert nach, wie ſie mit ihrer Schaar durch Städte und Dörfer zog, den königlichen Purpur über die runden Schultern geworfen, das reiche Haar mit einer goldnen Nadel aufgebunden, Köcher und Bogen auf der Achſel, und die ſcharfe Lanze in der Hand. Dieſe gewaltigen Kriegsrüſtungen erfüllten den Aeneas und ſeine Trojaner mit ſchweren Sorgen. Da erſchien jenem im Traume der Flußgott Tiberinus, und ſtieg in meerblauem Kleide, die Haare mit einem Schilf¬ kranze beſchattet, zwiſchen Pappelſtauden in Greiſenge¬ ſtalt aus dem Strom empor. „Göttlicher Held,“ ſprach er, „verzage nicht. Der Groll der Himmliſchen gegen dich iſt verſchwunden. Damit du nicht wähneſt, ein nichtiges Traumbild zu ſchauen, will ich dir ein Zeichen ſagen. Unter den Eichen des Ufers wirſt du ein großes Mutterſchwein liegend finden, das dreißig Friſchlinge ge¬ boren hat: dort iſt die Stelle, wo nach dreißig Jahren dein Sohn Askanius die verheißene Stadt Alba, Roms Mutterſtadt, gründen wird. Für jetzt aber merke, wie du dich gegen die Gefahr zu ſchützen haſt, die dich

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/384>, abgerufen am 26.04.2024.