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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Nisus und Euryalus.

Unter dem trojanischen Heere befanden sich zwei
kühne Jünglinge: Nisus und Euryalus. Nisus, ein
Sohn des Hyrtalus, einer der besten Speerwerfer und
Pfeilschützen, hatte sich aus dem Idagebirge an den
auswandernden Helden angeschlossen. Euryalus war
der schönste unter allen teukrischen Knaben, und der
erste Flaum der Jugend sproßte ihm um die Wangen.
Beide waren durch die innigste Freundschaft verbunden,
stürzten sich immer zusammen in die Schlacht, und hüteten
auch jetzt eines der Thore, nebeneinander Wache haltend.
"Ich möchte doch wissen," fing da zuerst Nisus an,
"ob die Götter uns diese Thatenlust in der Seele auf¬
wecken oder ob seine blinde Begier einem Jeden der
Gott ist! Mir ist diese träge Ruhe lästig, und schon
lange treibt mich der Geist, etwas Rechtes zu unterneh¬
men. Sieh, wie sich die Rutuler ihrem blinden Ver¬
trauen hingeben! Nur hier und da glänzt um die
Mauern ein Feuer, fast alle liegen von Wein und Schlafe
begraben da, und das tiefste Schweigen herrscht ringsum.
So vernimm denn, Freund, welcher Gedanke in mir auf¬
gestiegen ist. Alle unter uns, Volk und Väter verlan¬
gen, daß Aeneas herbeigerufen werde, und daß man
ihm zu dem Ende sichere Boten zuschicke, die uns Kunde
von ihm zurückbringen. Wenn man nun dir dem Zu¬
rückbleibenden verspräche, was ich für dich fordern will,
-- denn mir genügt an der Ehre --: was meinst du?

Niſus und Euryalus.

Unter dem trojaniſchen Heere befanden ſich zwei
kühne Jünglinge: Niſus und Euryalus. Niſus, ein
Sohn des Hyrtalus, einer der beſten Speerwerfer und
Pfeilſchützen, hatte ſich aus dem Idagebirge an den
auswandernden Helden angeſchloſſen. Euryalus war
der ſchönſte unter allen teukriſchen Knaben, und der
erſte Flaum der Jugend ſproßte ihm um die Wangen.
Beide waren durch die innigſte Freundſchaft verbunden,
ſtürzten ſich immer zuſammen in die Schlacht, und hüteten
auch jetzt eines der Thore, nebeneinander Wache haltend.
„Ich möchte doch wiſſen,“ fing da zuerſt Niſus an,
„ob die Götter uns dieſe Thatenluſt in der Seele auf¬
wecken oder ob ſeine blinde Begier einem Jeden der
Gott iſt! Mir iſt dieſe träge Ruhe läſtig, und ſchon
lange treibt mich der Geiſt, etwas Rechtes zu unterneh¬
men. Sieh, wie ſich die Rutuler ihrem blinden Ver¬
trauen hingeben! Nur hier und da glänzt um die
Mauern ein Feuer, faſt alle liegen von Wein und Schlafe
begraben da, und das tiefſte Schweigen herrſcht ringsum.
So vernimm denn, Freund, welcher Gedanke in mir auf¬
geſtiegen iſt. Alle unter uns, Volk und Väter verlan¬
gen, daß Aeneas herbeigerufen werde, und daß man
ihm zu dem Ende ſichere Boten zuſchicke, die uns Kunde
von ihm zurückbringen. Wenn man nun dir dem Zu¬
rückbleibenden verſpräche, was ich für dich fordern will,
— denn mir genügt an der Ehre —: was meinſt du?

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[375/0397] Niſus und Euryalus. Unter dem trojaniſchen Heere befanden ſich zwei kühne Jünglinge: Niſus und Euryalus. Niſus, ein Sohn des Hyrtalus, einer der beſten Speerwerfer und Pfeilſchützen, hatte ſich aus dem Idagebirge an den auswandernden Helden angeſchloſſen. Euryalus war der ſchönſte unter allen teukriſchen Knaben, und der erſte Flaum der Jugend ſproßte ihm um die Wangen. Beide waren durch die innigſte Freundſchaft verbunden, ſtürzten ſich immer zuſammen in die Schlacht, und hüteten auch jetzt eines der Thore, nebeneinander Wache haltend. „Ich möchte doch wiſſen,“ fing da zuerſt Niſus an, „ob die Götter uns dieſe Thatenluſt in der Seele auf¬ wecken oder ob ſeine blinde Begier einem Jeden der Gott iſt! Mir iſt dieſe träge Ruhe läſtig, und ſchon lange treibt mich der Geiſt, etwas Rechtes zu unterneh¬ men. Sieh, wie ſich die Rutuler ihrem blinden Ver¬ trauen hingeben! Nur hier und da glänzt um die Mauern ein Feuer, faſt alle liegen von Wein und Schlafe begraben da, und das tiefſte Schweigen herrſcht ringsum. So vernimm denn, Freund, welcher Gedanke in mir auf¬ geſtiegen iſt. Alle unter uns, Volk und Väter verlan¬ gen, daß Aeneas herbeigerufen werde, und daß man ihm zu dem Ende ſichere Boten zuſchicke, die uns Kunde von ihm zurückbringen. Wenn man nun dir dem Zu¬ rückbleibenden verſpräche, was ich für dich fordern will, — denn mir genügt an der Ehre —: was meinſt du?

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/397>, abgerufen am 26.04.2024.