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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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er mit zurückgebogenem Arme plötzlich den Speer empor,
und zum Mond emporblickend, der blaß am morgend¬
lichen Himmel stand, betete er: "Luna, Beschützerin
der Wälder, Latona's Tochter, wenn dir je mein Vater
für mich geopfert, wenn ich selbst je dir meine Jagd¬
beute geweiht, lenke meinen Speer, und laß diese Rotte
mich zerstreuen!" So sprach er, und schleuderte mit
Leibeskraft seine Lanze. Diese drang dem abgekehrten
Rutuler Sulmo in den Rücken und zur Brust heraus,
daß er sich zuckend auf dem Boden wälzte. Erschrocken
schauten sich die Reiter in der Runde um. Da flog
das zweite Geschoß des Nisus, und durchbohrte einen
andern Rutuler, dem Tagus, knirschend beide Schläfe.
Volscens, der Anführer der Reiter, gerieth in Wuth,
denn nirgends erblickte er den Speerschwinger; grimmig
rief er: "So bezahle denn du mir mit deinem Blute für
beide!" und ging mit emblöstem Schwerte auf den Eu¬
ryalus los. Vor Entsetzen schreiend, brach Nisus jetzt
aus seinem Verstecke hervor. "Ich bin der Thäter,"
rief er, "auf mich nur richtet eure Schwerter, der
ganze Betrug rührt von mir her! Ich schwör' es euch,
dieser ist unschuldig, nur Liebe zum unglücklichen Freund
war sein Vergehen!" Sein Rufen kam zu spät, Vols¬
cens hatte dem Knaben schon das Schwert durch die
Brust gestoßen, dieser wälzte sich im Tode, die schönen
Glieder überströmte das Blut, und sein Hals neigte
sich auf die Schultern, wie eine purpurne Blume, vom
Pfluge durchschnitten, dahinsinkt, wie ein blühender
Mohnstengel sein vom Regen belastetes Haupt zur Erde
senkt. Da warf sich Nisus in den Feind, stieß den
Andrang der Reiter rechts und links zurück, ging

er mit zurückgebogenem Arme plötzlich den Speer empor,
und zum Mond emporblickend, der blaß am morgend¬
lichen Himmel ſtand, betete er: „Luna, Beſchützerin
der Wälder, Latona's Tochter, wenn dir je mein Vater
für mich geopfert, wenn ich ſelbſt je dir meine Jagd¬
beute geweiht, lenke meinen Speer, und laß dieſe Rotte
mich zerſtreuen!“ So ſprach er, und ſchleuderte mit
Leibeskraft ſeine Lanze. Dieſe drang dem abgekehrten
Rutuler Sulmo in den Rücken und zur Bruſt heraus,
daß er ſich zuckend auf dem Boden wälzte. Erſchrocken
ſchauten ſich die Reiter in der Runde um. Da flog
das zweite Geſchoß des Niſus, und durchbohrte einen
andern Rutuler, dem Tagus, knirſchend beide Schläfe.
Volſcens, der Anführer der Reiter, gerieth in Wuth,
denn nirgends erblickte er den Speerſchwinger; grimmig
rief er: „So bezahle denn du mir mit deinem Blute für
beide!“ und ging mit emblöstem Schwerte auf den Eu¬
ryalus los. Vor Entſetzen ſchreiend, brach Niſus jetzt
aus ſeinem Verſtecke hervor. „Ich bin der Thäter,“
rief er, „auf mich nur richtet eure Schwerter, der
ganze Betrug rührt von mir her! Ich ſchwör' es euch,
dieſer iſt unſchuldig, nur Liebe zum unglücklichen Freund
war ſein Vergehen!“ Sein Rufen kam zu ſpät, Volſ¬
cens hatte dem Knaben ſchon das Schwert durch die
Bruſt geſtoßen, dieſer wälzte ſich im Tode, die ſchönen
Glieder überſtrömte das Blut, und ſein Hals neigte
ſich auf die Schultern, wie eine purpurne Blume, vom
Pfluge durchſchnitten, dahinſinkt, wie ein blühender
Mohnſtengel ſein vom Regen belaſtetes Haupt zur Erde
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[381/0403] er mit zurückgebogenem Arme plötzlich den Speer empor, und zum Mond emporblickend, der blaß am morgend¬ lichen Himmel ſtand, betete er: „Luna, Beſchützerin der Wälder, Latona's Tochter, wenn dir je mein Vater für mich geopfert, wenn ich ſelbſt je dir meine Jagd¬ beute geweiht, lenke meinen Speer, und laß dieſe Rotte mich zerſtreuen!“ So ſprach er, und ſchleuderte mit Leibeskraft ſeine Lanze. Dieſe drang dem abgekehrten Rutuler Sulmo in den Rücken und zur Bruſt heraus, daß er ſich zuckend auf dem Boden wälzte. Erſchrocken ſchauten ſich die Reiter in der Runde um. Da flog das zweite Geſchoß des Niſus, und durchbohrte einen andern Rutuler, dem Tagus, knirſchend beide Schläfe. Volſcens, der Anführer der Reiter, gerieth in Wuth, denn nirgends erblickte er den Speerſchwinger; grimmig rief er: „So bezahle denn du mir mit deinem Blute für beide!“ und ging mit emblöstem Schwerte auf den Eu¬ ryalus los. Vor Entſetzen ſchreiend, brach Niſus jetzt aus ſeinem Verſtecke hervor. „Ich bin der Thäter,“ rief er, „auf mich nur richtet eure Schwerter, der ganze Betrug rührt von mir her! Ich ſchwör' es euch, dieſer iſt unſchuldig, nur Liebe zum unglücklichen Freund war ſein Vergehen!“ Sein Rufen kam zu ſpät, Volſ¬ cens hatte dem Knaben ſchon das Schwert durch die Bruſt geſtoßen, dieſer wälzte ſich im Tode, die ſchönen Glieder überſtrömte das Blut, und ſein Hals neigte ſich auf die Schultern, wie eine purpurne Blume, vom Pfluge durchſchnitten, dahinſinkt, wie ein blühender Mohnſtengel ſein vom Regen belaſtetes Haupt zur Erde ſenkt. Da warf ſich Niſus in den Feind, ſtieß den Andrang der Reiter rechts und links zurück, ging

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/403>, abgerufen am 26.04.2024.