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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Augen verschwand, rief dem Todten ein letztes Lebewohl
zu, und kehrte wieder in das Lager zurück.

Indessen waren aus der Stadt des Latinus Gesandte
mit Oelzweigen in der Hand angekommen, und flehten
um die Erlaubniß, die Leiber der Ihrigen bestatten zu
dürfen. Diesen erwiederte Aeneas voll Huld, indem er
ihnen ihre Bitte sogleich gewährte: "Welche Verblen¬
dung, ihr Latiner, hat euch unsere Freundschaft ver¬
schmähen lassen, und in diesen großen Krieg verwickelt!
Ihr begehret Frieden für eure Todten? wie gerne ge¬
währte ich ihn auch den Lebenden! Auch wäre ich ge¬
wiß eurem Lande niemals genaht, wenn dieser Wohnplatz
mir nicht durch das Schicksal angewiesen worden wäre.
Dazu führe ich keineswegs Krieg mit eurem Volke. Nicht
dieses, nur euer König hat unsern Bund verschmäht,
und sich lieber den Waffen des Turnus anvertraut. Will
Turnus den Krieg mit der Faust enden, will er die
Trojaner durchaus nicht in dem Lande dulden, nun so
werfe er sich in seine Rüstung und kämpfe mit mir,
Mann für Mann. Behalte dann Recht, wem ein Gott
und seine Faust das Leben verleiht. Jetzt aber gehet,
und legt eure armen Mitbürger auf den Scheiterhaufen."

Als die Gesandten so milde Worte aus dem Munde
des Trojanerfürsten hörten, sahen sie, schweigend vor
Staunen, einander an. Endlich sprach der greise Dran¬
ces, von jeher ein Feind des Turnus: "Held von Troja,
was soll ich mehr an dir bewundern, deine kriegerische
Tugend, oder deine Gerechtigkeit? Wir gehen, voll Dank
unserer Vaterstadt deine Willensmeinung zu verkünden,
und, wenn es möglich ist, den König Latinus mit dir
zu versöhnen." Alle Gesandte bestätigten diese Rede mit

Augen verſchwand, rief dem Todten ein letztes Lebewohl
zu, und kehrte wieder in das Lager zurück.

Indeſſen waren aus der Stadt des Latinus Geſandte
mit Oelzweigen in der Hand angekommen, und flehten
um die Erlaubniß, die Leiber der Ihrigen beſtatten zu
dürfen. Dieſen erwiederte Aeneas voll Huld, indem er
ihnen ihre Bitte ſogleich gewährte: „Welche Verblen¬
dung, ihr Latiner, hat euch unſere Freundſchaft ver¬
ſchmähen laſſen, und in dieſen großen Krieg verwickelt!
Ihr begehret Frieden für eure Todten? wie gerne ge¬
währte ich ihn auch den Lebenden! Auch wäre ich ge¬
wiß eurem Lande niemals genaht, wenn dieſer Wohnplatz
mir nicht durch das Schickſal angewieſen worden wäre.
Dazu führe ich keineswegs Krieg mit eurem Volke. Nicht
dieſes, nur euer König hat unſern Bund verſchmäht,
und ſich lieber den Waffen des Turnus anvertraut. Will
Turnus den Krieg mit der Fauſt enden, will er die
Trojaner durchaus nicht in dem Lande dulden, nun ſo
werfe er ſich in ſeine Rüſtung und kämpfe mit mir,
Mann für Mann. Behalte dann Recht, wem ein Gott
und ſeine Fauſt das Leben verleiht. Jetzt aber gehet,
und legt eure armen Mitbürger auf den Scheiterhaufen.“

Als die Geſandten ſo milde Worte aus dem Munde
des Trojanerfürſten hörten, ſahen ſie, ſchweigend vor
Staunen, einander an. Endlich ſprach der greiſe Dran¬
ces, von jeher ein Feind des Turnus: „Held von Troja,
was ſoll ich mehr an dir bewundern, deine kriegeriſche
Tugend, oder deine Gerechtigkeit? Wir gehen, voll Dank
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und, wenn es möglich iſt, den König Latinus mit dir
zu verſöhnen.“ Alle Geſandte beſtätigten dieſe Rede mit

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[407/0429] Augen verſchwand, rief dem Todten ein letztes Lebewohl zu, und kehrte wieder in das Lager zurück. Indeſſen waren aus der Stadt des Latinus Geſandte mit Oelzweigen in der Hand angekommen, und flehten um die Erlaubniß, die Leiber der Ihrigen beſtatten zu dürfen. Dieſen erwiederte Aeneas voll Huld, indem er ihnen ihre Bitte ſogleich gewährte: „Welche Verblen¬ dung, ihr Latiner, hat euch unſere Freundſchaft ver¬ ſchmähen laſſen, und in dieſen großen Krieg verwickelt! Ihr begehret Frieden für eure Todten? wie gerne ge¬ währte ich ihn auch den Lebenden! Auch wäre ich ge¬ wiß eurem Lande niemals genaht, wenn dieſer Wohnplatz mir nicht durch das Schickſal angewieſen worden wäre. Dazu führe ich keineswegs Krieg mit eurem Volke. Nicht dieſes, nur euer König hat unſern Bund verſchmäht, und ſich lieber den Waffen des Turnus anvertraut. Will Turnus den Krieg mit der Fauſt enden, will er die Trojaner durchaus nicht in dem Lande dulden, nun ſo werfe er ſich in ſeine Rüſtung und kämpfe mit mir, Mann für Mann. Behalte dann Recht, wem ein Gott und ſeine Fauſt das Leben verleiht. Jetzt aber gehet, und legt eure armen Mitbürger auf den Scheiterhaufen.“ Als die Geſandten ſo milde Worte aus dem Munde des Trojanerfürſten hörten, ſahen ſie, ſchweigend vor Staunen, einander an. Endlich ſprach der greiſe Dran¬ ces, von jeher ein Feind des Turnus: „Held von Troja, was ſoll ich mehr an dir bewundern, deine kriegeriſche Tugend, oder deine Gerechtigkeit? Wir gehen, voll Dank unſerer Vaterſtadt deine Willensmeinung zu verkünden, und, wenn es möglich iſt, den König Latinus mit dir zu verſöhnen.“ Alle Geſandte beſtätigten dieſe Rede mit

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/429>, abgerufen am 26.04.2024.