Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

der Polizei als Wohlfahrts- und als Sicherheitspolizei auf; aber da
gerade durch diese Scheidung die Polizei jetzt alle Beziehungen der
Regierung zum Volke umfaßt, so entsteht die Vorstellung, daß die
Polizeiwissenschaft eigentlich identisch mit der Staatswissenschaft sei,
während man sich andererseits nicht läugnen kann, daß sie dieses Ge-
biet nicht erschöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit
dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwissenschaften,
bald auch Auffassung derselben als das von Finanzen und Volkswirth-
schaft geschiedene selbständige, aber alle Verhältnisse umfassende ge-
sammte Gebiet der inneren Verwaltung
überhaupt, deren Be-
griff und Organismus man noch nicht kennt. Dieser Standpunkt, von
Heumann und Delamare begründet, von Justi und Sonnenfels durch-
geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie
bis auf die neueste Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne
unseres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf dieser nun
ist es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen
Begriff der Polizei begründet hat.

Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert ist
nämlich die Verschmelzung von Gesetzgebung und Verwaltung, und
damit Allgewalt des Staats. Mit unserem Jahrhundert scheiden sich
beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Gesetz ist, welches
alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen soll. Damit entsteht der
selbständige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre erste und ver-
ständlichste Form ist die der Regierung. Offenbar nun ist die Re-
gierung selbst keine bloße Polizei, sondern die Polizei erscheint vielmehr
als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Dieser
Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deutschen, wenn auch
noch unter dem Gesichtspunkt der "Polizeihoheit" aus. Damit denn
entsteht die Frage, welchen Theil der Regierungsfunktion dann der
Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all-
gemeine Begriff, sowohl der vollziehenden Gewalt, als der systematische
Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und so gab es hier zwar das
Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Gestaltung des Neuen.

In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe
machten es hauptsächlich schwierig. Erstlich erschien die Polizei faktisch
zugleich als ein Organ der namentlich strafrechtlichen Verwaltung, und
die Gränze zwischen Polizei und Gericht war schon hier schwer zu ziehen.
Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herrschaft des Ge-
setzes der Polizei doch eine gewisse Befugniß zur Erlassung von gül-
tigen Vorschriften auch außerhalb des Gesetzes zugesprochen werden
müsse, wenn sie ihre Thätigkeit vollziehen solle. Und drittens war es

der Polizei als Wohlfahrts- und als Sicherheitspolizei auf; aber da
gerade durch dieſe Scheidung die Polizei jetzt alle Beziehungen der
Regierung zum Volke umfaßt, ſo entſteht die Vorſtellung, daß die
Polizeiwiſſenſchaft eigentlich identiſch mit der Staatswiſſenſchaft ſei,
während man ſich andererſeits nicht läugnen kann, daß ſie dieſes Ge-
biet nicht erſchöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit
dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwiſſenſchaften,
bald auch Auffaſſung derſelben als das von Finanzen und Volkswirth-
ſchaft geſchiedene ſelbſtändige, aber alle Verhältniſſe umfaſſende ge-
ſammte Gebiet der inneren Verwaltung
überhaupt, deren Be-
griff und Organismus man noch nicht kennt. Dieſer Standpunkt, von
Heumann und Delamare begründet, von Juſti und Sonnenfels durch-
geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie
bis auf die neueſte Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne
unſeres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf dieſer nun
iſt es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen
Begriff der Polizei begründet hat.

Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert iſt
nämlich die Verſchmelzung von Geſetzgebung und Verwaltung, und
damit Allgewalt des Staats. Mit unſerem Jahrhundert ſcheiden ſich
beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Geſetz iſt, welches
alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen ſoll. Damit entſteht der
ſelbſtändige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre erſte und ver-
ſtändlichſte Form iſt die der Regierung. Offenbar nun iſt die Re-
gierung ſelbſt keine bloße Polizei, ſondern die Polizei erſcheint vielmehr
als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Dieſer
Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deutſchen, wenn auch
noch unter dem Geſichtspunkt der „Polizeihoheit“ aus. Damit denn
entſteht die Frage, welchen Theil der Regierungsfunktion dann der
Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all-
gemeine Begriff, ſowohl der vollziehenden Gewalt, als der ſyſtematiſche
Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und ſo gab es hier zwar das
Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Geſtaltung des Neuen.

In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe
machten es hauptſächlich ſchwierig. Erſtlich erſchien die Polizei faktiſch
zugleich als ein Organ der namentlich ſtrafrechtlichen Verwaltung, und
die Gränze zwiſchen Polizei und Gericht war ſchon hier ſchwer zu ziehen.
Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herrſchaft des Ge-
ſetzes der Polizei doch eine gewiſſe Befugniß zur Erlaſſung von gül-
tigen Vorſchriften auch außerhalb des Geſetzes zugeſprochen werden
müſſe, wenn ſie ihre Thätigkeit vollziehen ſolle. Und drittens war es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0120" n="96"/>
der Polizei als Wohlfahrts- und als Sicherheitspolizei auf; aber da<lb/>
gerade durch die&#x017F;e Scheidung die Polizei jetzt <hi rendition="#g">alle</hi> Beziehungen der<lb/>
Regierung zum Volke umfaßt, &#x017F;o ent&#x017F;teht die Vor&#x017F;tellung, daß die<lb/>
Polizeiwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft eigentlich identi&#x017F;ch mit der Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;ei,<lb/>
während man &#x017F;ich anderer&#x017F;eits nicht läugnen kann, daß &#x017F;ie die&#x017F;es Ge-<lb/>
biet nicht er&#x017F;chöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit<lb/>
dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften,<lb/>
bald auch Auffa&#x017F;&#x017F;ung der&#x017F;elben als das von Finanzen und Volkswirth-<lb/>
&#x017F;chaft ge&#x017F;chiedene &#x017F;elb&#x017F;tändige, aber <hi rendition="#g">alle</hi> Verhältni&#x017F;&#x017F;e umfa&#x017F;&#x017F;ende <hi rendition="#g">ge-<lb/>
&#x017F;ammte Gebiet der inneren Verwaltung</hi> überhaupt, deren Be-<lb/>
griff und Organismus man noch nicht kennt. Die&#x017F;er Standpunkt, von<lb/>
Heumann und Delamare begründet, von Ju&#x017F;ti und Sonnenfels durch-<lb/>
geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie<lb/>
bis auf die neue&#x017F;te Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne<lb/>
un&#x017F;eres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf die&#x017F;er nun<lb/>
i&#x017F;t es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen<lb/>
Begriff der Polizei begründet hat.</p><lb/>
                <p>Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert i&#x017F;t<lb/>
nämlich die Ver&#x017F;chmelzung von Ge&#x017F;etzgebung und Verwaltung, und<lb/>
damit Allgewalt des Staats. Mit un&#x017F;erem Jahrhundert &#x017F;cheiden &#x017F;ich<lb/>
beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Ge&#x017F;etz i&#x017F;t, welches<lb/>
alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen &#x017F;oll. Damit ent&#x017F;teht der<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tändige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre er&#x017F;te und ver-<lb/>
&#x017F;tändlich&#x017F;te Form i&#x017F;t die der <hi rendition="#g">Regierung</hi>. Offenbar nun i&#x017F;t die Re-<lb/>
gierung &#x017F;elb&#x017F;t keine bloße Polizei, &#x017F;ondern die Polizei er&#x017F;cheint vielmehr<lb/>
als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Die&#x017F;er<lb/>
Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deut&#x017F;chen, wenn auch<lb/>
noch unter dem Ge&#x017F;ichtspunkt der &#x201E;Polizeihoheit&#x201C; aus. Damit denn<lb/>
ent&#x017F;teht die Frage, <hi rendition="#g">welchen</hi> Theil der Regierungsfunktion dann der<lb/>
Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all-<lb/>
gemeine Begriff, &#x017F;owohl der vollziehenden Gewalt, als der &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che<lb/>
Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und &#x017F;o gab es hier zwar das<lb/>
Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Ge&#x017F;taltung des Neuen.</p><lb/>
                <p>In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe<lb/>
machten es haupt&#x017F;ächlich &#x017F;chwierig. Er&#x017F;tlich er&#x017F;chien die Polizei fakti&#x017F;ch<lb/>
zugleich als ein Organ der namentlich &#x017F;trafrechtlichen Verwaltung, und<lb/>
die Gränze zwi&#x017F;chen Polizei und Gericht war &#x017F;chon hier &#x017F;chwer zu ziehen.<lb/>
Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herr&#x017F;chaft des Ge-<lb/>
&#x017F;etzes der Polizei doch eine gewi&#x017F;&#x017F;e Befugniß zur Erla&#x017F;&#x017F;ung von gül-<lb/>
tigen Vor&#x017F;chriften auch außerhalb des Ge&#x017F;etzes zuge&#x017F;prochen werden<lb/>&#x017F;&#x017F;e, wenn &#x017F;ie ihre Thätigkeit vollziehen &#x017F;olle. Und drittens war es<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0120] der Polizei als Wohlfahrts- und als Sicherheitspolizei auf; aber da gerade durch dieſe Scheidung die Polizei jetzt alle Beziehungen der Regierung zum Volke umfaßt, ſo entſteht die Vorſtellung, daß die Polizeiwiſſenſchaft eigentlich identiſch mit der Staatswiſſenſchaft ſei, während man ſich andererſeits nicht läugnen kann, daß ſie dieſes Ge- biet nicht erſchöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwiſſenſchaften, bald auch Auffaſſung derſelben als das von Finanzen und Volkswirth- ſchaft geſchiedene ſelbſtändige, aber alle Verhältniſſe umfaſſende ge- ſammte Gebiet der inneren Verwaltung überhaupt, deren Be- griff und Organismus man noch nicht kennt. Dieſer Standpunkt, von Heumann und Delamare begründet, von Juſti und Sonnenfels durch- geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie bis auf die neueſte Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne unſeres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf dieſer nun iſt es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen Begriff der Polizei begründet hat. Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert iſt nämlich die Verſchmelzung von Geſetzgebung und Verwaltung, und damit Allgewalt des Staats. Mit unſerem Jahrhundert ſcheiden ſich beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Geſetz iſt, welches alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen ſoll. Damit entſteht der ſelbſtändige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre erſte und ver- ſtändlichſte Form iſt die der Regierung. Offenbar nun iſt die Re- gierung ſelbſt keine bloße Polizei, ſondern die Polizei erſcheint vielmehr als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Dieſer Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deutſchen, wenn auch noch unter dem Geſichtspunkt der „Polizeihoheit“ aus. Damit denn entſteht die Frage, welchen Theil der Regierungsfunktion dann der Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all- gemeine Begriff, ſowohl der vollziehenden Gewalt, als der ſyſtematiſche Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und ſo gab es hier zwar das Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Geſtaltung des Neuen. In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe machten es hauptſächlich ſchwierig. Erſtlich erſchien die Polizei faktiſch zugleich als ein Organ der namentlich ſtrafrechtlichen Verwaltung, und die Gränze zwiſchen Polizei und Gericht war ſchon hier ſchwer zu ziehen. Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herrſchaft des Ge- ſetzes der Polizei doch eine gewiſſe Befugniß zur Erlaſſung von gül- tigen Vorſchriften auch außerhalb des Geſetzes zugeſprochen werden müſſe, wenn ſie ihre Thätigkeit vollziehen ſolle. Und drittens war es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/120
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/120>, abgerufen am 26.04.2024.