Es ist nun ein wesentlicher Fortschritt unserer Zeit, daß wir ge- lernt haben, die Aufgabe der Armenunterstützung von der socialen Frage zu scheiden. Die Nothwendigkeit dieser Scheidung bedarf keines weiteren Nachweises. Aber es ist festzuhalten, daß nur sie es ist, welche das ganze Armenunterstützungswesen zuletzt so einfach macht, wie es in Folgendem erscheint.
a) Armenbetheilung.
Die Armenbetheilung als die direkte Armenunterstützung, im Ein- zelnen unendlich vielgestaltig, ist in ihren Grundzügen sehr einfach. Wird dieselbe von Gemeinden gegeben, so ist es richtig diese Grundsätze durch Gemeindebeschluß festzustellen; Unterstützungsvereine sollten die- selben principiell durchführen.
Die Armenkreise sollen möglichst klein sein, um die Einzelbeur- theilung zuzulassen. Sie soll so wenig als möglich in baarem Gelde, sondern so viel als thunlich in Naturalien bestehen. Sie soll in mög- lichst kurzen Terminen gegeben werden. Sie soll nie größer sein, als zur Deckung des dringendsten Bedürfnisses. Sie soll nie gegeben werden, ohne vorhergehende Constatirung der Noth, nicht bloß der Armuth. Sie soll stets darauf bedacht sein, so bald als möglich zu enden. Sie soll geradezu verweigert werden, wenn der Noth- leidende nachweisbar einen Erwerb, wenn er auch noch so gering ist, ausschlägt. Sie soll daher stets verbunden sein mit dem Versuche, den Armen irgend eine Arbeit zu geben. Jede Unterstützung, welche dem Erwerbfähigen, der Arbeit finden kann, gegeben wird, ist ein Unrecht. Die Frage nach der Errichtung eigener Arbeitshäuser ist keine Frage des Princips, sondern der Zweckmäßigkeit, ebenso die ihrer Ein- richtung. Es ist Pflicht der Gemeindeglieder, wo sie können, den Unterstützten irgend eine Arbeit zu geben. Das Uebrige muß den lokalen Verhältnissen überlassen bleiben.
Es ist eben so leicht, diese Grundsätze theoretisch weiter auszubilden, als es schwer ist, sie praktisch gut durchzuführen. -- Das englische System be- ruht auf der strengen Unterscheidung der Unterstützung der Hausarmen (out door relief) und der Aufnahme in die Arbeitshäuser (in door relief); das continentale System hat das System der Arbeitshäuser mehr als ein Straf- mittel aufgefaßt. Die Literatur darüber war früher viel reicher als in neuester Zeit, wo das sociale Element in den Vordergrund getreten ist (vergl. Rau §. 342 ff.; Mohl, Polizeiwissenschaft I. §. 62; GerandoIV. 193 ff.); in Frank- reich werden die Hausarmen vielfach in Familien untergebracht, ebend. 211. Die englischen Workhouses:Kries, Engl. Armenwesen S. 19 ff.; Gerando III. 520 mit Vergleichung analoger Einrichtungen in Frankreich, der Schweiz,
Es iſt nun ein weſentlicher Fortſchritt unſerer Zeit, daß wir ge- lernt haben, die Aufgabe der Armenunterſtützung von der ſocialen Frage zu ſcheiden. Die Nothwendigkeit dieſer Scheidung bedarf keines weiteren Nachweiſes. Aber es iſt feſtzuhalten, daß nur ſie es iſt, welche das ganze Armenunterſtützungsweſen zuletzt ſo einfach macht, wie es in Folgendem erſcheint.
a) Armenbetheilung.
Die Armenbetheilung als die direkte Armenunterſtützung, im Ein- zelnen unendlich vielgeſtaltig, iſt in ihren Grundzügen ſehr einfach. Wird dieſelbe von Gemeinden gegeben, ſo iſt es richtig dieſe Grundſätze durch Gemeindebeſchluß feſtzuſtellen; Unterſtützungsvereine ſollten die- ſelben principiell durchführen.
Die Armenkreiſe ſollen möglichſt klein ſein, um die Einzelbeur- theilung zuzulaſſen. Sie ſoll ſo wenig als möglich in baarem Gelde, ſondern ſo viel als thunlich in Naturalien beſtehen. Sie ſoll in mög- lichſt kurzen Terminen gegeben werden. Sie ſoll nie größer ſein, als zur Deckung des dringendſten Bedürfniſſes. Sie ſoll nie gegeben werden, ohne vorhergehende Conſtatirung der Noth, nicht bloß der Armuth. Sie ſoll ſtets darauf bedacht ſein, ſo bald als möglich zu enden. Sie ſoll geradezu verweigert werden, wenn der Noth- leidende nachweisbar einen Erwerb, wenn er auch noch ſo gering iſt, ausſchlägt. Sie ſoll daher ſtets verbunden ſein mit dem Verſuche, den Armen irgend eine Arbeit zu geben. Jede Unterſtützung, welche dem Erwerbfähigen, der Arbeit finden kann, gegeben wird, iſt ein Unrecht. Die Frage nach der Errichtung eigener Arbeitshäuſer iſt keine Frage des Princips, ſondern der Zweckmäßigkeit, ebenſo die ihrer Ein- richtung. Es iſt Pflicht der Gemeindeglieder, wo ſie können, den Unterſtützten irgend eine Arbeit zu geben. Das Uebrige muß den lokalen Verhältniſſen überlaſſen bleiben.
Es iſt eben ſo leicht, dieſe Grundſätze theoretiſch weiter auszubilden, als es ſchwer iſt, ſie praktiſch gut durchzuführen. — Das engliſche Syſtem be- ruht auf der ſtrengen Unterſcheidung der Unterſtützung der Hausarmen (out door relief) und der Aufnahme in die Arbeitshäuſer (in door relief); das continentale Syſtem hat das Syſtem der Arbeitshäuſer mehr als ein Straf- mittel aufgefaßt. Die Literatur darüber war früher viel reicher als in neueſter Zeit, wo das ſociale Element in den Vordergrund getreten iſt (vergl. Rau §. 342 ff.; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 62; GerandoIV. 193 ff.); in Frank- reich werden die Hausarmen vielfach in Familien untergebracht, ebend. 211. Die engliſchen Workhouses:Kries, Engl. Armenweſen S. 19 ff.; Gerando III. 520 mit Vergleichung analoger Einrichtungen in Frankreich, der Schweiz,
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Frage zu ſcheiden. Die Nothwendigkeit dieſer Scheidung bedarf
keines weiteren Nachweiſes. Aber es iſt feſtzuhalten, daß nur ſie es
iſt, welche das ganze Armenunterſtützungsweſen zuletzt ſo einfach macht,
wie es in Folgendem erſcheint.
a) Armenbetheilung.
Die Armenbetheilung als die direkte Armenunterſtützung, im Ein-
zelnen unendlich vielgeſtaltig, iſt in ihren Grundzügen ſehr einfach.
Wird dieſelbe von Gemeinden gegeben, ſo iſt es richtig dieſe Grundſätze
durch Gemeindebeſchluß feſtzuſtellen; Unterſtützungsvereine ſollten die-
ſelben principiell durchführen.
Die Armenkreiſe ſollen möglichſt klein ſein, um die Einzelbeur-
theilung zuzulaſſen. Sie ſoll ſo wenig als möglich in baarem Gelde,
ſondern ſo viel als thunlich in Naturalien beſtehen. Sie ſoll in mög-
lichſt kurzen Terminen gegeben werden. Sie ſoll nie größer ſein,
als zur Deckung des dringendſten Bedürfniſſes. Sie ſoll nie gegeben
werden, ohne vorhergehende Conſtatirung der Noth, nicht bloß der
Armuth. Sie ſoll ſtets darauf bedacht ſein, ſo bald als möglich zu
enden. Sie ſoll geradezu verweigert werden, wenn der Noth-
leidende nachweisbar einen Erwerb, wenn er auch noch ſo gering iſt,
ausſchlägt. Sie ſoll daher ſtets verbunden ſein mit dem Verſuche, den
Armen irgend eine Arbeit zu geben. Jede Unterſtützung, welche dem
Erwerbfähigen, der Arbeit finden kann, gegeben wird, iſt ein Unrecht.
Die Frage nach der Errichtung eigener Arbeitshäuſer iſt keine
Frage des Princips, ſondern der Zweckmäßigkeit, ebenſo die ihrer Ein-
richtung. Es iſt Pflicht der Gemeindeglieder, wo ſie können, den
Unterſtützten irgend eine Arbeit zu geben. Das Uebrige muß den
lokalen Verhältniſſen überlaſſen bleiben.
Es iſt eben ſo leicht, dieſe Grundſätze theoretiſch weiter auszubilden, als
es ſchwer iſt, ſie praktiſch gut durchzuführen. — Das engliſche Syſtem be-
ruht auf der ſtrengen Unterſcheidung der Unterſtützung der Hausarmen (out
door relief) und der Aufnahme in die Arbeitshäuſer (in door relief); das
continentale Syſtem hat das Syſtem der Arbeitshäuſer mehr als ein Straf-
mittel aufgefaßt. Die Literatur darüber war früher viel reicher als in neueſter
Zeit, wo das ſociale Element in den Vordergrund getreten iſt (vergl. Rau
§. 342 ff.; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 62; Gerando IV. 193 ff.); in Frank-
reich werden die Hausarmen vielfach in Familien untergebracht, ebend. 211.
Die engliſchen Workhouses: Kries, Engl. Armenweſen S. 19 ff.; Gerando
III. 520 mit Vergleichung analoger Einrichtungen in Frankreich, der Schweiz,
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/462>, abgerufen am 27.04.2024.
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