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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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That desselben, da sie selbständig neben der Gesetzgebung dastehen, auch
mit dem Inhalt der letzteren in Widerspruch gerathen können. Da
nun das Gesetz der höchste Wille des Staats ist, so folgt, daß das
Princip jenes Rechts die Herstellung der Harmonie zwischen Gesetz-
gebung und Vollziehung sein muß. Die Verwirklichung dieses Princips
hat nun nach der Organisation der Funktionen der Regierung drei
Grundformen.

Das Staatsoberhaupt ist unverantwortlich. Denn die Be-
dingung der Geltung seines Willens ist die Zustimmung der Minister;
diese Zustimmung macht dann die letzteren für den Willen des Ober-
haupts verantwortlich. Wo sie in bestimmten Fällen nicht nöthig ist, da
hat jener Wille dadurch an und für sich d[as] Recht des höchsten Staats-
willens. Das ist das Rechtsprincip des verfassungsmäßigen König-
thums.

Für die Regierung dagegen gelten die beiden Grundrechte der
Verantwortlichkeit und der Haftung, sowohl für das Mini-
sterial- als für das Behördensystem. Nur erscheinen beide für jedes
derselben in verschiedener Form.

Das Wesen der Verantwortlichkeit beruht darauf, daß die
Gesetze neben ihrem Wortlaut auch einen Geist haben, und daß die
höhere Natur des Staats eine geistige ist. Die Regierung ist ver-
pflichtet, sich diesen Geist des Staats, sowie den der besondern Gesetze
anzueignen, und in ihrer Thätigkeit denselben in der gesammten Ver-
waltung zur Geltung zu bringen. Die Grundlage der Haftung besteht
darin, daß die einzelnen Handlungen der einzelnen Organe der voll-
ziehenden Gewalt nicht dem Wortlaut der Gesetze widersprechen dürfen.

Die Verantwortlichkeit des Ministerium erscheint in dem, durch
die Abstimmungen der Volksvertretung gegebenen Urtheil derselben
über die Harmonie zwischen dem Geist der Verwaltung und dem der
Gesetze. Die Verantwortlichkeit der Behörde dagegen erscheint als die
Verpflichtung derselben, in ihren Verfügungen den Geist der Verord-
nungen zum Ausdruck zu bringen, und wird verwirklicht durch die Be-
schwerde
gegen jedes Organ in seiner Thätigkeit, gerichtet an die
höhere Behörde. Das Recht der Beschwerde ist daher ein eben so ab-
solutes staatsbürgerliches Recht, als das der Abstimmung in der Volks-
vertretung. Es ist eine der wesentlichen Bedingungen eines verfassungs-
mäßigen Regierungsrechts, daß das Beschwerdeverfahren gesetzlich
und gerecht geordnet, und mit dem Disciplinarverfahren im Amts-
strafrecht in engste Verbindung gebracht sei. Beides fehlt in allen
Staaten Europas.

Bei der Haftung des Ministeriums muß man unterscheiden.

That deſſelben, da ſie ſelbſtändig neben der Geſetzgebung daſtehen, auch
mit dem Inhalt der letzteren in Widerſpruch gerathen können. Da
nun das Geſetz der höchſte Wille des Staats iſt, ſo folgt, daß das
Princip jenes Rechts die Herſtellung der Harmonie zwiſchen Geſetz-
gebung und Vollziehung ſein muß. Die Verwirklichung dieſes Princips
hat nun nach der Organiſation der Funktionen der Regierung drei
Grundformen.

Das Staatsoberhaupt iſt unverantwortlich. Denn die Be-
dingung der Geltung ſeines Willens iſt die Zuſtimmung der Miniſter;
dieſe Zuſtimmung macht dann die letzteren für den Willen des Ober-
haupts verantwortlich. Wo ſie in beſtimmten Fällen nicht nöthig iſt, da
hat jener Wille dadurch an und für ſich d[as] Recht des höchſten Staats-
willens. Das iſt das Rechtsprincip des verfaſſungsmäßigen König-
thums.

Für die Regierung dagegen gelten die beiden Grundrechte der
Verantwortlichkeit und der Haftung, ſowohl für das Mini-
ſterial- als für das Behördenſyſtem. Nur erſcheinen beide für jedes
derſelben in verſchiedener Form.

Das Weſen der Verantwortlichkeit beruht darauf, daß die
Geſetze neben ihrem Wortlaut auch einen Geiſt haben, und daß die
höhere Natur des Staats eine geiſtige iſt. Die Regierung iſt ver-
pflichtet, ſich dieſen Geiſt des Staats, ſowie den der beſondern Geſetze
anzueignen, und in ihrer Thätigkeit denſelben in der geſammten Ver-
waltung zur Geltung zu bringen. Die Grundlage der Haftung beſteht
darin, daß die einzelnen Handlungen der einzelnen Organe der voll-
ziehenden Gewalt nicht dem Wortlaut der Geſetze widerſprechen dürfen.

Die Verantwortlichkeit des Miniſterium erſcheint in dem, durch
die Abſtimmungen der Volksvertretung gegebenen Urtheil derſelben
über die Harmonie zwiſchen dem Geiſt der Verwaltung und dem der
Geſetze. Die Verantwortlichkeit der Behörde dagegen erſcheint als die
Verpflichtung derſelben, in ihren Verfügungen den Geiſt der Verord-
nungen zum Ausdruck zu bringen, und wird verwirklicht durch die Be-
ſchwerde
gegen jedes Organ in ſeiner Thätigkeit, gerichtet an die
höhere Behörde. Das Recht der Beſchwerde iſt daher ein eben ſo ab-
ſolutes ſtaatsbürgerliches Recht, als das der Abſtimmung in der Volks-
vertretung. Es iſt eine der weſentlichen Bedingungen eines verfaſſungs-
mäßigen Regierungsrechts, daß das Beſchwerdeverfahren geſetzlich
und gerecht geordnet, und mit dem Disciplinarverfahren im Amts-
ſtrafrecht in engſte Verbindung gebracht ſei. Beides fehlt in allen
Staaten Europas.

Bei der Haftung des Miniſteriums muß man unterſcheiden.

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[23/0047] That deſſelben, da ſie ſelbſtändig neben der Geſetzgebung daſtehen, auch mit dem Inhalt der letzteren in Widerſpruch gerathen können. Da nun das Geſetz der höchſte Wille des Staats iſt, ſo folgt, daß das Princip jenes Rechts die Herſtellung der Harmonie zwiſchen Geſetz- gebung und Vollziehung ſein muß. Die Verwirklichung dieſes Princips hat nun nach der Organiſation der Funktionen der Regierung drei Grundformen. Das Staatsoberhaupt iſt unverantwortlich. Denn die Be- dingung der Geltung ſeines Willens iſt die Zuſtimmung der Miniſter; dieſe Zuſtimmung macht dann die letzteren für den Willen des Ober- haupts verantwortlich. Wo ſie in beſtimmten Fällen nicht nöthig iſt, da hat jener Wille dadurch an und für ſich das Recht des höchſten Staats- willens. Das iſt das Rechtsprincip des verfaſſungsmäßigen König- thums. Für die Regierung dagegen gelten die beiden Grundrechte der Verantwortlichkeit und der Haftung, ſowohl für das Mini- ſterial- als für das Behördenſyſtem. Nur erſcheinen beide für jedes derſelben in verſchiedener Form. Das Weſen der Verantwortlichkeit beruht darauf, daß die Geſetze neben ihrem Wortlaut auch einen Geiſt haben, und daß die höhere Natur des Staats eine geiſtige iſt. Die Regierung iſt ver- pflichtet, ſich dieſen Geiſt des Staats, ſowie den der beſondern Geſetze anzueignen, und in ihrer Thätigkeit denſelben in der geſammten Ver- waltung zur Geltung zu bringen. Die Grundlage der Haftung beſteht darin, daß die einzelnen Handlungen der einzelnen Organe der voll- ziehenden Gewalt nicht dem Wortlaut der Geſetze widerſprechen dürfen. Die Verantwortlichkeit des Miniſterium erſcheint in dem, durch die Abſtimmungen der Volksvertretung gegebenen Urtheil derſelben über die Harmonie zwiſchen dem Geiſt der Verwaltung und dem der Geſetze. Die Verantwortlichkeit der Behörde dagegen erſcheint als die Verpflichtung derſelben, in ihren Verfügungen den Geiſt der Verord- nungen zum Ausdruck zu bringen, und wird verwirklicht durch die Be- ſchwerde gegen jedes Organ in ſeiner Thätigkeit, gerichtet an die höhere Behörde. Das Recht der Beſchwerde iſt daher ein eben ſo ab- ſolutes ſtaatsbürgerliches Recht, als das der Abſtimmung in der Volks- vertretung. Es iſt eine der weſentlichen Bedingungen eines verfaſſungs- mäßigen Regierungsrechts, daß das Beſchwerdeverfahren geſetzlich und gerecht geordnet, und mit dem Disciplinarverfahren im Amts- ſtrafrecht in engſte Verbindung gebracht ſei. Beides fehlt in allen Staaten Europas. Bei der Haftung des Miniſteriums muß man unterſcheiden.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/47>, abgerufen am 26.04.2024.