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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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c) Die Selbstverwaltung Deutschlands.

Vielleicht in keinem Lande wird so viel von Selbstverwaltung ge-
sprochen, und die Verwirklichung derselben so sehr als ein Ziel der
Bestrebungen hingestellt, als in Deutschland. Und dennoch ist gerade
in Deutschland die Selbstverwaltung keinesweges so unvollkommen und
so unfrei, wie man darnach meinen sollte. Der Grund jener Erschei-
nung aber liegt allerdings tiefer. Während Englands Selbstverwaltung
von jeder Staatsverwaltung frei ist und als sich selber verantwortlich
dasteht, während Frankreichs Selbstverwaltung zum eigentlichen Ver-
walten gar nicht gelangt, sondern bei dem bloßen Rathe stehen bleibt,
ist Deutschlands Selbstverwaltung diejenige, welche mit der staatlichen
Verwaltung auf allen Punkten in beständiger Berührung steht, und
daher auf allen Punkten ihr eigenthümliches Princip mit dem der
letzteren in Berührung und Gegensatz bringt. Deutschland ist daher
die Heimath eben dieses Gefühles der tiefen Verschiedenheit beider Arten
der Verwaltung, das andererseits wieder eben so sehr durchdrungen ist
von dem Bewußtsein, daß beide ihrem höhern Wesen nach eine har-
monische Einheit bilden sollen und zuletzt auch bilden. Daher die Un-
klarheit darüber, die so weit geht, daß man in der Philosophie so wenig
als im Staatsrecht auch nur den Begriff und Namen der Selbstver-
waltung findet, während in der Wirklichkeit die Selbstverwaltung nir-
gends organischer entwickelt ist als in Deutschland. Wir haben alles
von der wahren Selbstverwaltung, nur nicht das Bewußtsein derselben.

Dieser Zustand hängt nun einerseits mit der Geschichte, anderer-
seits mit den gegebenen Zuständen aufs Engste zusammen. Man muß
nie vergessen, daß die letzteren in Beziehung auf den Organismus der
Verwaltung überhaupt, also auch in Beziehung auf die Selbstverwaltung,
durch die so höchst verschiedene Größe der einzelnen Staaten ein Bild
darbieten, wie es nie da gewesen ist. Schon diese räumliche Verschie-
denheit zwingt die Organisationen, sehr verschieden zu sein; die Beson-
derheiten liegen aber auch in der großen Verschiedenheit des Bildungs-
processes der Staaten selbst; und so müssen wir uns darauf gefaßt
machen; bei großer, durchgreifender Gleichheit in allen Grundlagen eine
eben so große Unähnlichkeit in Formen und Rechten zu finden. Dadurch
wird es ungemein schwer, ein klares Bild herzustellen; ja es wäre das
geradezu unmöglich, wenn nicht im Großen und Ganzen der Charakter
aller dieser Staatenbildungen dennoch derselbe bliebe.

Diesen Charakter setzen wir nun in spezieller Beziehung zur Selbst-
verwaltung, in der Anerkennung des historischen Rechts als
Grundlage der Selbstverwaltung
. So weit das historische

c) Die Selbſtverwaltung Deutſchlands.

Vielleicht in keinem Lande wird ſo viel von Selbſtverwaltung ge-
ſprochen, und die Verwirklichung derſelben ſo ſehr als ein Ziel der
Beſtrebungen hingeſtellt, als in Deutſchland. Und dennoch iſt gerade
in Deutſchland die Selbſtverwaltung keinesweges ſo unvollkommen und
ſo unfrei, wie man darnach meinen ſollte. Der Grund jener Erſchei-
nung aber liegt allerdings tiefer. Während Englands Selbſtverwaltung
von jeder Staatsverwaltung frei iſt und als ſich ſelber verantwortlich
daſteht, während Frankreichs Selbſtverwaltung zum eigentlichen Ver-
walten gar nicht gelangt, ſondern bei dem bloßen Rathe ſtehen bleibt,
iſt Deutſchlands Selbſtverwaltung diejenige, welche mit der ſtaatlichen
Verwaltung auf allen Punkten in beſtändiger Berührung ſteht, und
daher auf allen Punkten ihr eigenthümliches Princip mit dem der
letzteren in Berührung und Gegenſatz bringt. Deutſchland iſt daher
die Heimath eben dieſes Gefühles der tiefen Verſchiedenheit beider Arten
der Verwaltung, das andererſeits wieder eben ſo ſehr durchdrungen iſt
von dem Bewußtſein, daß beide ihrem höhern Weſen nach eine har-
moniſche Einheit bilden ſollen und zuletzt auch bilden. Daher die Un-
klarheit darüber, die ſo weit geht, daß man in der Philoſophie ſo wenig
als im Staatsrecht auch nur den Begriff und Namen der Selbſtver-
waltung findet, während in der Wirklichkeit die Selbſtverwaltung nir-
gends organiſcher entwickelt iſt als in Deutſchland. Wir haben alles
von der wahren Selbſtverwaltung, nur nicht das Bewußtſein derſelben.

Dieſer Zuſtand hängt nun einerſeits mit der Geſchichte, anderer-
ſeits mit den gegebenen Zuſtänden aufs Engſte zuſammen. Man muß
nie vergeſſen, daß die letzteren in Beziehung auf den Organismus der
Verwaltung überhaupt, alſo auch in Beziehung auf die Selbſtverwaltung,
durch die ſo höchſt verſchiedene Größe der einzelnen Staaten ein Bild
darbieten, wie es nie da geweſen iſt. Schon dieſe räumliche Verſchie-
denheit zwingt die Organiſationen, ſehr verſchieden zu ſein; die Beſon-
derheiten liegen aber auch in der großen Verſchiedenheit des Bildungs-
proceſſes der Staaten ſelbſt; und ſo müſſen wir uns darauf gefaßt
machen; bei großer, durchgreifender Gleichheit in allen Grundlagen eine
eben ſo große Unähnlichkeit in Formen und Rechten zu finden. Dadurch
wird es ungemein ſchwer, ein klares Bild herzuſtellen; ja es wäre das
geradezu unmöglich, wenn nicht im Großen und Ganzen der Charakter
aller dieſer Staatenbildungen dennoch derſelbe bliebe.

Dieſen Charakter ſetzen wir nun in ſpezieller Beziehung zur Selbſt-
verwaltung, in der Anerkennung des hiſtoriſchen Rechts als
Grundlage der Selbſtverwaltung
. So weit das hiſtoriſche

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[399/0423] c) Die Selbſtverwaltung Deutſchlands. Vielleicht in keinem Lande wird ſo viel von Selbſtverwaltung ge- ſprochen, und die Verwirklichung derſelben ſo ſehr als ein Ziel der Beſtrebungen hingeſtellt, als in Deutſchland. Und dennoch iſt gerade in Deutſchland die Selbſtverwaltung keinesweges ſo unvollkommen und ſo unfrei, wie man darnach meinen ſollte. Der Grund jener Erſchei- nung aber liegt allerdings tiefer. Während Englands Selbſtverwaltung von jeder Staatsverwaltung frei iſt und als ſich ſelber verantwortlich daſteht, während Frankreichs Selbſtverwaltung zum eigentlichen Ver- walten gar nicht gelangt, ſondern bei dem bloßen Rathe ſtehen bleibt, iſt Deutſchlands Selbſtverwaltung diejenige, welche mit der ſtaatlichen Verwaltung auf allen Punkten in beſtändiger Berührung ſteht, und daher auf allen Punkten ihr eigenthümliches Princip mit dem der letzteren in Berührung und Gegenſatz bringt. Deutſchland iſt daher die Heimath eben dieſes Gefühles der tiefen Verſchiedenheit beider Arten der Verwaltung, das andererſeits wieder eben ſo ſehr durchdrungen iſt von dem Bewußtſein, daß beide ihrem höhern Weſen nach eine har- moniſche Einheit bilden ſollen und zuletzt auch bilden. Daher die Un- klarheit darüber, die ſo weit geht, daß man in der Philoſophie ſo wenig als im Staatsrecht auch nur den Begriff und Namen der Selbſtver- waltung findet, während in der Wirklichkeit die Selbſtverwaltung nir- gends organiſcher entwickelt iſt als in Deutſchland. Wir haben alles von der wahren Selbſtverwaltung, nur nicht das Bewußtſein derſelben. Dieſer Zuſtand hängt nun einerſeits mit der Geſchichte, anderer- ſeits mit den gegebenen Zuſtänden aufs Engſte zuſammen. Man muß nie vergeſſen, daß die letzteren in Beziehung auf den Organismus der Verwaltung überhaupt, alſo auch in Beziehung auf die Selbſtverwaltung, durch die ſo höchſt verſchiedene Größe der einzelnen Staaten ein Bild darbieten, wie es nie da geweſen iſt. Schon dieſe räumliche Verſchie- denheit zwingt die Organiſationen, ſehr verſchieden zu ſein; die Beſon- derheiten liegen aber auch in der großen Verſchiedenheit des Bildungs- proceſſes der Staaten ſelbſt; und ſo müſſen wir uns darauf gefaßt machen; bei großer, durchgreifender Gleichheit in allen Grundlagen eine eben ſo große Unähnlichkeit in Formen und Rechten zu finden. Dadurch wird es ungemein ſchwer, ein klares Bild herzuſtellen; ja es wäre das geradezu unmöglich, wenn nicht im Großen und Ganzen der Charakter aller dieſer Staatenbildungen dennoch derſelbe bliebe. Dieſen Charakter ſetzen wir nun in ſpezieller Beziehung zur Selbſt- verwaltung, in der Anerkennung des hiſtoriſchen Rechts als Grundlage der Selbſtverwaltung. So weit das hiſtoriſche

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/423>, abgerufen am 26.04.2024.