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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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welchen sie sich vollzieht, ist folgende. Die Gesammtheit der Thätig-
keiten der Regierung ist, da ihr selbst grundsätzlich keine selbständige
Funktion gestattet ist, nur die Vollziehung der Gesetze. Wo kein Ge-
setz ist, da ist auch keine Regierung. Wo daher Interessen sind, welche
durch kein Gesetz geordnet werden, da muß sich das Volk selbst helfen;
jedes Eingreifen auch im höchsten Interesse des Ganzen von Seiten
eines Organes der Regierung ist ungesetzlich. Die Selbstverwaltung hat
daher im Grunde den Charakter einer Erfüllung der Funktion der Ge-
setzgebung durch die freie Thätigkeit der Einzelnen. Die Aufgabe dieses
Staatslebens besteht daher darin, wo möglich für alles was seinem
Wesen nach der Regierung gehört, Gesetze zu geben, und dann vermöge
des Gerichts die Organe der vollziehenden Gewalt dazu anzuhalten,
daß sie diese Gesetze auch wirklich vollziehen und sie nie überschreiten.
Was nicht durch ein Gesetz befohlen ist, geht die Regierung nichts an;
die Selbstverwaltung kann sich nicht bloß selbst helfen, sondern es wäre
ungesetzlich, wenn die Regierung selbstthätig eingriffe. Was aber
gegen das Gesetz geschieht, geht die Regierung eben so wenig an; denn
es ist Sache dessen, der sich verletzt fühlt, das Organ der vollziehenden
Gewalt zu verklagen und sich Recht zu schaffen. So ist das, was wir
die Regierung nennen, in England eigentlich gar nicht vorhanden;
Geist und Form derselben sind, wie wir es unten im Einzelnen sehen
werden, so wesentlich von denen des Continents verschieden, daß wir
uns in einen ganz andern, von fremden Gesetzen beherrschten Organis-
mus versetzt fühlen; selbst unsere Namen passen nicht; es gibt keine
Ministerien und keine Behörden, kein Staatsdienerrecht und keine
Oberaufsicht dort, sondern nur gerichtlich geschützte Ausführung der
Gesetze und Selbsthülfe für die Interessen durch die Selbstverwaltung.
Wir müssen hier mit wahrer Hochachtung Gneists Werk nennen; er
ist es, der den innern Zusammenhang dieses Zustandes, die Unselbst-
ständigkeit der Regierung gegenüber dem gesetzgebenden Körper und
die Funktion der Selbstverwaltung und des Gerichts, mit den großen
Faktoren der Rechtsbildung im ganzen Staatsleben der gesellschaft-
lichen Ordnungen, zuerst und in erschöpfender Weise verstanden hat.
Ohne ihn wird man künftig England schwerlich kennen lernen, niemals
zu beschreiben und zu verstehen im Stande sein. Es ist schwer ihn
zu benützen, denn man kann fast nur ihn benützen. Wenn solche
Arbeiten für alle Länder Europas dereinst vorliegen, wird man sehen,
wie weit wir jetzt noch von der höchsten Lösung unserer Aufgaben ent-
fernt sind.

Ob nun dieser Zustand bei allen großen Vorzügen, die er hat, ein
wirklich guter ist, ist eine andere Frage. Wir müssen behaupten, daß

welchen ſie ſich vollzieht, iſt folgende. Die Geſammtheit der Thätig-
keiten der Regierung iſt, da ihr ſelbſt grundſätzlich keine ſelbſtändige
Funktion geſtattet iſt, nur die Vollziehung der Geſetze. Wo kein Ge-
ſetz iſt, da iſt auch keine Regierung. Wo daher Intereſſen ſind, welche
durch kein Geſetz geordnet werden, da muß ſich das Volk ſelbſt helfen;
jedes Eingreifen auch im höchſten Intereſſe des Ganzen von Seiten
eines Organes der Regierung iſt ungeſetzlich. Die Selbſtverwaltung hat
daher im Grunde den Charakter einer Erfüllung der Funktion der Ge-
ſetzgebung durch die freie Thätigkeit der Einzelnen. Die Aufgabe dieſes
Staatslebens beſteht daher darin, wo möglich für alles was ſeinem
Weſen nach der Regierung gehört, Geſetze zu geben, und dann vermöge
des Gerichts die Organe der vollziehenden Gewalt dazu anzuhalten,
daß ſie dieſe Geſetze auch wirklich vollziehen und ſie nie überſchreiten.
Was nicht durch ein Geſetz befohlen iſt, geht die Regierung nichts an;
die Selbſtverwaltung kann ſich nicht bloß ſelbſt helfen, ſondern es wäre
ungeſetzlich, wenn die Regierung ſelbſtthätig eingriffe. Was aber
gegen das Geſetz geſchieht, geht die Regierung eben ſo wenig an; denn
es iſt Sache deſſen, der ſich verletzt fühlt, das Organ der vollziehenden
Gewalt zu verklagen und ſich Recht zu ſchaffen. So iſt das, was wir
die Regierung nennen, in England eigentlich gar nicht vorhanden;
Geiſt und Form derſelben ſind, wie wir es unten im Einzelnen ſehen
werden, ſo weſentlich von denen des Continents verſchieden, daß wir
uns in einen ganz andern, von fremden Geſetzen beherrſchten Organis-
mus verſetzt fühlen; ſelbſt unſere Namen paſſen nicht; es gibt keine
Miniſterien und keine Behörden, kein Staatsdienerrecht und keine
Oberaufſicht dort, ſondern nur gerichtlich geſchützte Ausführung der
Geſetze und Selbſthülfe für die Intereſſen durch die Selbſtverwaltung.
Wir müſſen hier mit wahrer Hochachtung Gneiſts Werk nennen; er
iſt es, der den innern Zuſammenhang dieſes Zuſtandes, die Unſelbſt-
ſtändigkeit der Regierung gegenüber dem geſetzgebenden Körper und
die Funktion der Selbſtverwaltung und des Gerichts, mit den großen
Faktoren der Rechtsbildung im ganzen Staatsleben der geſellſchaft-
lichen Ordnungen, zuerſt und in erſchöpfender Weiſe verſtanden hat.
Ohne ihn wird man künftig England ſchwerlich kennen lernen, niemals
zu beſchreiben und zu verſtehen im Stande ſein. Es iſt ſchwer ihn
zu benützen, denn man kann faſt nur ihn benützen. Wenn ſolche
Arbeiten für alle Länder Europas dereinſt vorliegen, wird man ſehen,
wie weit wir jetzt noch von der höchſten Löſung unſerer Aufgaben ent-
fernt ſind.

Ob nun dieſer Zuſtand bei allen großen Vorzügen, die er hat, ein
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[254/0278] welchen ſie ſich vollzieht, iſt folgende. Die Geſammtheit der Thätig- keiten der Regierung iſt, da ihr ſelbſt grundſätzlich keine ſelbſtändige Funktion geſtattet iſt, nur die Vollziehung der Geſetze. Wo kein Ge- ſetz iſt, da iſt auch keine Regierung. Wo daher Intereſſen ſind, welche durch kein Geſetz geordnet werden, da muß ſich das Volk ſelbſt helfen; jedes Eingreifen auch im höchſten Intereſſe des Ganzen von Seiten eines Organes der Regierung iſt ungeſetzlich. Die Selbſtverwaltung hat daher im Grunde den Charakter einer Erfüllung der Funktion der Ge- ſetzgebung durch die freie Thätigkeit der Einzelnen. Die Aufgabe dieſes Staatslebens beſteht daher darin, wo möglich für alles was ſeinem Weſen nach der Regierung gehört, Geſetze zu geben, und dann vermöge des Gerichts die Organe der vollziehenden Gewalt dazu anzuhalten, daß ſie dieſe Geſetze auch wirklich vollziehen und ſie nie überſchreiten. Was nicht durch ein Geſetz befohlen iſt, geht die Regierung nichts an; die Selbſtverwaltung kann ſich nicht bloß ſelbſt helfen, ſondern es wäre ungeſetzlich, wenn die Regierung ſelbſtthätig eingriffe. Was aber gegen das Geſetz geſchieht, geht die Regierung eben ſo wenig an; denn es iſt Sache deſſen, der ſich verletzt fühlt, das Organ der vollziehenden Gewalt zu verklagen und ſich Recht zu ſchaffen. So iſt das, was wir die Regierung nennen, in England eigentlich gar nicht vorhanden; Geiſt und Form derſelben ſind, wie wir es unten im Einzelnen ſehen werden, ſo weſentlich von denen des Continents verſchieden, daß wir uns in einen ganz andern, von fremden Geſetzen beherrſchten Organis- mus verſetzt fühlen; ſelbſt unſere Namen paſſen nicht; es gibt keine Miniſterien und keine Behörden, kein Staatsdienerrecht und keine Oberaufſicht dort, ſondern nur gerichtlich geſchützte Ausführung der Geſetze und Selbſthülfe für die Intereſſen durch die Selbſtverwaltung. Wir müſſen hier mit wahrer Hochachtung Gneiſts Werk nennen; er iſt es, der den innern Zuſammenhang dieſes Zuſtandes, die Unſelbſt- ſtändigkeit der Regierung gegenüber dem geſetzgebenden Körper und die Funktion der Selbſtverwaltung und des Gerichts, mit den großen Faktoren der Rechtsbildung im ganzen Staatsleben der geſellſchaft- lichen Ordnungen, zuerſt und in erſchöpfender Weiſe verſtanden hat. Ohne ihn wird man künftig England ſchwerlich kennen lernen, niemals zu beſchreiben und zu verſtehen im Stande ſein. Es iſt ſchwer ihn zu benützen, denn man kann faſt nur ihn benützen. Wenn ſolche Arbeiten für alle Länder Europas dereinſt vorliegen, wird man ſehen, wie weit wir jetzt noch von der höchſten Löſung unſerer Aufgaben ent- fernt ſind. Ob nun dieſer Zuſtand bei allen großen Vorzügen, die er hat, ein wirklich guter iſt, iſt eine andere Frage. Wir müſſen behaupten, daß

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/278>, abgerufen am 26.04.2024.