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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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gegenwärtig vielfach gleich bedeutend der Ausdruck "Lyceum," namentlich
in den Ländern, welche ganz oder theilweise das französische Berufsbil-
dungswesen aufgenommen haben; der wesentliche Unterschied zwischen dem
Gymnasial- und Lycealsystem ist jedoch der, daß im ersteren nur,
oder doch bei weitem vorwiegend, die gelehrte Bildung geboten wird,
an die sich die Elemente der wirthschaftlichen anschließen, während das
Lycealsystem die gelehrte und wirthschaftliche Vorbildung als ein Ganzes
in zwei Theilen behandelt (das sogenannte Bifurcationssystem; s. Frank-
reich). Es ist kein Zweifel, daß Deutschland der Träger des strengen Gym-
nasialsystems ist. Wir haben daher seine Bedeutung unten darzustellen.

Das "Athenäum" und die "Colleges" dagegen bedeuten die hohen
Schulen, insofern sie als selbständige allgemeine Bildungsanstalten da-
stehen, und mithin auf den Eintritt in das praktische Leben ohne be-
stimmte Berufsbildung, also auf das Angehören an die geistig gebildete
Welt berechnet sind. Sie gehören wesentlich als historische Formationen
noch einigen Ländern an, wie England, Belgien und einem Theile der
Schweiz, und sind nicht bloß an sich von dem Gymnasium verschieden,
sondern bedeuten auch wo sie vorkommen, eine wesentlich andere Auf-
fassung des gesammten Vorbildungswesens, wie es sich unten zeigen wird.

Deutschlands gelehrtes Schulwesen zeichnet sich nun dadurch aus,
daß es beide großen Grundformen der gelehrten Vorbildung bei sich
mit voller Bestimmtheit ausgebildet und jeder derselben ihr eigenthüm-
liches öffentliches Recht gegeben hat. Deutschland besitzt nämlich in
seinem Gymnasialsystem ein speciell für das Vorbildungswesen der
Fachbildung (Universität) bestimmtes System von gelehrten Schulan-
stalten, während das durch die Athenäen oder Colleges ausgedrückte
Element in -- bis jetzt nur einzeln dastehenden -- Privatunter-
nehmungen
vertreten ist. Das Verhältniß beider zu einander be-
ruht dann wieder darauf, daß die letzteren zugleich meist die Fähigkeit
haben, auch als Gymnasien für die Universität vorzubereiten. Daß
jedoch ihre Stellung von der der Gymnasien im Grunde wesentlich ver-
schieden und sie die alten englischen Colleges auf dem Continent sind,
wird denselben erst dann recht klar werden, wenn das Wesen der eigent-
lichen Gymnasien bestimmt festgestellt ist. Dieß nun kann nur auf
historischem Wege geschehen. Allerdings gehört diese geschichtliche Ent-
wicklung im Grunde ganz Europa an; allein nirgends wird es so klar
wie in Deutschland, in welcher Weise sich das eigentliche Gymnasial-
wesen aus der historischen Gestalt der alten hohen Schule zu seiner
specifischen Stellung und Aufgabe entwickelt. Wir müssen daher die
Elemente dieser Geschichte hier voraussenden.


gegenwärtig vielfach gleich bedeutend der Ausdruck „Lyceum,“ namentlich
in den Ländern, welche ganz oder theilweiſe das franzöſiſche Berufsbil-
dungsweſen aufgenommen haben; der weſentliche Unterſchied zwiſchen dem
Gymnaſial- und Lycealſyſtem iſt jedoch der, daß im erſteren nur,
oder doch bei weitem vorwiegend, die gelehrte Bildung geboten wird,
an die ſich die Elemente der wirthſchaftlichen anſchließen, während das
Lycealſyſtem die gelehrte und wirthſchaftliche Vorbildung als ein Ganzes
in zwei Theilen behandelt (das ſogenannte Bifurcationsſyſtem; ſ. Frank-
reich). Es iſt kein Zweifel, daß Deutſchland der Träger des ſtrengen Gym-
naſialſyſtems iſt. Wir haben daher ſeine Bedeutung unten darzuſtellen.

Das „Athenäum“ und die „Collèges“ dagegen bedeuten die hohen
Schulen, inſofern ſie als ſelbſtändige allgemeine Bildungsanſtalten da-
ſtehen, und mithin auf den Eintritt in das praktiſche Leben ohne be-
ſtimmte Berufsbildung, alſo auf das Angehören an die geiſtig gebildete
Welt berechnet ſind. Sie gehören weſentlich als hiſtoriſche Formationen
noch einigen Ländern an, wie England, Belgien und einem Theile der
Schweiz, und ſind nicht bloß an ſich von dem Gymnaſium verſchieden,
ſondern bedeuten auch wo ſie vorkommen, eine weſentlich andere Auf-
faſſung des geſammten Vorbildungsweſens, wie es ſich unten zeigen wird.

Deutſchlands gelehrtes Schulweſen zeichnet ſich nun dadurch aus,
daß es beide großen Grundformen der gelehrten Vorbildung bei ſich
mit voller Beſtimmtheit ausgebildet und jeder derſelben ihr eigenthüm-
liches öffentliches Recht gegeben hat. Deutſchland beſitzt nämlich in
ſeinem Gymnaſialſyſtem ein ſpeciell für das Vorbildungsweſen der
Fachbildung (Univerſität) beſtimmtes Syſtem von gelehrten Schulan-
ſtalten, während das durch die Athenäen oder Collèges ausgedrückte
Element in — bis jetzt nur einzeln daſtehenden — Privatunter-
nehmungen
vertreten iſt. Das Verhältniß beider zu einander be-
ruht dann wieder darauf, daß die letzteren zugleich meiſt die Fähigkeit
haben, auch als Gymnaſien für die Univerſität vorzubereiten. Daß
jedoch ihre Stellung von der der Gymnaſien im Grunde weſentlich ver-
ſchieden und ſie die alten engliſchen Colleges auf dem Continent ſind,
wird denſelben erſt dann recht klar werden, wenn das Weſen der eigent-
lichen Gymnaſien beſtimmt feſtgeſtellt iſt. Dieß nun kann nur auf
hiſtoriſchem Wege geſchehen. Allerdings gehört dieſe geſchichtliche Ent-
wicklung im Grunde ganz Europa an; allein nirgends wird es ſo klar
wie in Deutſchland, in welcher Weiſe ſich das eigentliche Gymnaſial-
weſen aus der hiſtoriſchen Geſtalt der alten hohen Schule zu ſeiner
ſpecifiſchen Stellung und Aufgabe entwickelt. Wir müſſen daher die
Elemente dieſer Geſchichte hier vorausſenden.


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[195/0223] gegenwärtig vielfach gleich bedeutend der Ausdruck „Lyceum,“ namentlich in den Ländern, welche ganz oder theilweiſe das franzöſiſche Berufsbil- dungsweſen aufgenommen haben; der weſentliche Unterſchied zwiſchen dem Gymnaſial- und Lycealſyſtem iſt jedoch der, daß im erſteren nur, oder doch bei weitem vorwiegend, die gelehrte Bildung geboten wird, an die ſich die Elemente der wirthſchaftlichen anſchließen, während das Lycealſyſtem die gelehrte und wirthſchaftliche Vorbildung als ein Ganzes in zwei Theilen behandelt (das ſogenannte Bifurcationsſyſtem; ſ. Frank- reich). Es iſt kein Zweifel, daß Deutſchland der Träger des ſtrengen Gym- naſialſyſtems iſt. Wir haben daher ſeine Bedeutung unten darzuſtellen. Das „Athenäum“ und die „Collèges“ dagegen bedeuten die hohen Schulen, inſofern ſie als ſelbſtändige allgemeine Bildungsanſtalten da- ſtehen, und mithin auf den Eintritt in das praktiſche Leben ohne be- ſtimmte Berufsbildung, alſo auf das Angehören an die geiſtig gebildete Welt berechnet ſind. Sie gehören weſentlich als hiſtoriſche Formationen noch einigen Ländern an, wie England, Belgien und einem Theile der Schweiz, und ſind nicht bloß an ſich von dem Gymnaſium verſchieden, ſondern bedeuten auch wo ſie vorkommen, eine weſentlich andere Auf- faſſung des geſammten Vorbildungsweſens, wie es ſich unten zeigen wird. Deutſchlands gelehrtes Schulweſen zeichnet ſich nun dadurch aus, daß es beide großen Grundformen der gelehrten Vorbildung bei ſich mit voller Beſtimmtheit ausgebildet und jeder derſelben ihr eigenthüm- liches öffentliches Recht gegeben hat. Deutſchland beſitzt nämlich in ſeinem Gymnaſialſyſtem ein ſpeciell für das Vorbildungsweſen der Fachbildung (Univerſität) beſtimmtes Syſtem von gelehrten Schulan- ſtalten, während das durch die Athenäen oder Collèges ausgedrückte Element in — bis jetzt nur einzeln daſtehenden — Privatunter- nehmungen vertreten iſt. Das Verhältniß beider zu einander be- ruht dann wieder darauf, daß die letzteren zugleich meiſt die Fähigkeit haben, auch als Gymnaſien für die Univerſität vorzubereiten. Daß jedoch ihre Stellung von der der Gymnaſien im Grunde weſentlich ver- ſchieden und ſie die alten engliſchen Colleges auf dem Continent ſind, wird denſelben erſt dann recht klar werden, wenn das Weſen der eigent- lichen Gymnaſien beſtimmt feſtgeſtellt iſt. Dieß nun kann nur auf hiſtoriſchem Wege geſchehen. Allerdings gehört dieſe geſchichtliche Ent- wicklung im Grunde ganz Europa an; allein nirgends wird es ſo klar wie in Deutſchland, in welcher Weiſe ſich das eigentliche Gymnaſial- weſen aus der hiſtoriſchen Geſtalt der alten hohen Schule zu ſeiner ſpecifiſchen Stellung und Aufgabe entwickelt. Wir müſſen daher die Elemente dieſer Geſchichte hier vorausſenden.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/223>, abgerufen am 27.04.2024.