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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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die Klassenstunden dadurch zu bloßen Abhörungsstunden für das außer-
halb der Klasse Gelernte werden, es hat nicht bloß das Formelwesen
und die geistige Abhängigkeit von der fremden Führung erzeugt,
sondern es ist die Consolidirung des socialen Unterschiedes zwischen
besitzender und nicht besitzender Klasse, da namentlich die niederen Klassen
nicht die Mittel besitzen, ihre Kinder in das Pensionnat zu schicken.
Die übrigen pädagogischen Folgen haben wir hier nicht zu erwägen.
So viel aber ist klar, daß es dieß System ist, welches auch bei gleichen
formellen Ergebnissen nicht dieselben ethischen ergeben kann, wie das
deutsche, wo der Knabe schon auf dem Gymnasium oft vom elterlichen
Hause getrennt, eine selbständige Stellung sich zu schaffen gelehrt wird.
Dennoch kann dieß System erst beseitigt werden, wenn die Gemeinden
und Genossenschaften ernstlich die Berufsbildung in die Hand nehmen.

Die Berufung und Stellung der Professoren, von der das ganze
Universitätsleben zuletzt abhängt, ist zweitens in Frankreich niemals
richtig verstanden, seitdem es seine centrale Universite besitzt. Das hat
der ganzen gelehrten Fachbildung ihren specifischen Charakter gegeben.
Es wird am einfachsten dadurch ausgedrückt, daß Frankreich keine
Universitätsbildung besitzt
, sondern nur einzelne Fakultäten
für die einzelnen Berufe. Aber auch in diesen Fakultäten ist das
höchste Element der geistigen Bildung, der wissenschaftliche Zusammen-
hang
der einzelnen Gebiete unter einander, und die Erzeugung einer
Weltanschauung durch Philosophie, Geschichte und Staatswissenschaft
nicht vorhanden. Sie sind Anstalten für den Erwerb der Berufs-
kenntnisse
und nicht mehr. Ihre ganze Organisation ist rein amt-
lich; ihre Lehrkörper haben keine Selbstthätigkeit; von Lehr- und Beruf-
freiheit ist keine Rede, weil es sich eben nicht um die höhere wissen-
schaftliche und geistige Entwicklung, sondern um die Brauchbarkeit für
den öffentlichen Dienst handelt. Das Collegium ist daher eine Pflicht,
nicht eine Aufgabe. Die Vorlesungen sind in ihrem Objekt streng vor-
geschrieben, wie namentlich die juristischen; eine systematische Behand-
lung gibt es nicht; Geschichte und Philosophie fehlen; so fehlt der
Fakultät die Universität, und dieselbe ist daher auch, trotz des gleichen
Namens, keine deutsche Fakultät, sondern eine reine Abrichtungsan-
stalt für den öffentlichen Dienst, die tief unter den deutschen wissen-
schaftlichen Körpern stehen. Auch dafür indeß ist das Gefühl in Frank-
reich nicht ganz verschwunden. Das lebendige Bewußtsein, daß die
Wissenschaft ein Ganzes ist, daß sie ohne classische Grundlage auch in
ihren einzelnen Fächern nie zu ihrer vollen Höhe gedeihen kann, hat
sich erhalten und wird immer wieder durch den Contact mit der deutschen
Wissenschaft lebendig gehalten. Dieß nun zeigt sich am deutlichsten in

die Klaſſenſtunden dadurch zu bloßen Abhörungsſtunden für das außer-
halb der Klaſſe Gelernte werden, es hat nicht bloß das Formelweſen
und die geiſtige Abhängigkeit von der fremden Führung erzeugt,
ſondern es iſt die Conſolidirung des ſocialen Unterſchiedes zwiſchen
beſitzender und nicht beſitzender Klaſſe, da namentlich die niederen Klaſſen
nicht die Mittel beſitzen, ihre Kinder in das Penſionnat zu ſchicken.
Die übrigen pädagogiſchen Folgen haben wir hier nicht zu erwägen.
So viel aber iſt klar, daß es dieß Syſtem iſt, welches auch bei gleichen
formellen Ergebniſſen nicht dieſelben ethiſchen ergeben kann, wie das
deutſche, wo der Knabe ſchon auf dem Gymnaſium oft vom elterlichen
Hauſe getrennt, eine ſelbſtändige Stellung ſich zu ſchaffen gelehrt wird.
Dennoch kann dieß Syſtem erſt beſeitigt werden, wenn die Gemeinden
und Genoſſenſchaften ernſtlich die Berufsbildung in die Hand nehmen.

Die Berufung und Stellung der Profeſſoren, von der das ganze
Univerſitätsleben zuletzt abhängt, iſt zweitens in Frankreich niemals
richtig verſtanden, ſeitdem es ſeine centrale Université beſitzt. Das hat
der ganzen gelehrten Fachbildung ihren ſpecifiſchen Charakter gegeben.
Es wird am einfachſten dadurch ausgedrückt, daß Frankreich keine
Univerſitätsbildung beſitzt
, ſondern nur einzelne Fakultäten
für die einzelnen Berufe. Aber auch in dieſen Fakultäten iſt das
höchſte Element der geiſtigen Bildung, der wiſſenſchaftliche Zuſammen-
hang
der einzelnen Gebiete unter einander, und die Erzeugung einer
Weltanſchauung durch Philoſophie, Geſchichte und Staatswiſſenſchaft
nicht vorhanden. Sie ſind Anſtalten für den Erwerb der Berufs-
kenntniſſe
und nicht mehr. Ihre ganze Organiſation iſt rein amt-
lich; ihre Lehrkörper haben keine Selbſtthätigkeit; von Lehr- und Beruf-
freiheit iſt keine Rede, weil es ſich eben nicht um die höhere wiſſen-
ſchaftliche und geiſtige Entwicklung, ſondern um die Brauchbarkeit für
den öffentlichen Dienſt handelt. Das Collegium iſt daher eine Pflicht,
nicht eine Aufgabe. Die Vorleſungen ſind in ihrem Objekt ſtreng vor-
geſchrieben, wie namentlich die juriſtiſchen; eine ſyſtematiſche Behand-
lung gibt es nicht; Geſchichte und Philoſophie fehlen; ſo fehlt der
Fakultät die Univerſität, und dieſelbe iſt daher auch, trotz des gleichen
Namens, keine deutſche Fakultät, ſondern eine reine Abrichtungsan-
ſtalt für den öffentlichen Dienſt, die tief unter den deutſchen wiſſen-
ſchaftlichen Körpern ſtehen. Auch dafür indeß iſt das Gefühl in Frank-
reich nicht ganz verſchwunden. Das lebendige Bewußtſein, daß die
Wiſſenſchaft ein Ganzes iſt, daß ſie ohne claſſiſche Grundlage auch in
ihren einzelnen Fächern nie zu ihrer vollen Höhe gedeihen kann, hat
ſich erhalten und wird immer wieder durch den Contact mit der deutſchen
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[298/0326] die Klaſſenſtunden dadurch zu bloßen Abhörungsſtunden für das außer- halb der Klaſſe Gelernte werden, es hat nicht bloß das Formelweſen und die geiſtige Abhängigkeit von der fremden Führung erzeugt, ſondern es iſt die Conſolidirung des ſocialen Unterſchiedes zwiſchen beſitzender und nicht beſitzender Klaſſe, da namentlich die niederen Klaſſen nicht die Mittel beſitzen, ihre Kinder in das Penſionnat zu ſchicken. Die übrigen pädagogiſchen Folgen haben wir hier nicht zu erwägen. So viel aber iſt klar, daß es dieß Syſtem iſt, welches auch bei gleichen formellen Ergebniſſen nicht dieſelben ethiſchen ergeben kann, wie das deutſche, wo der Knabe ſchon auf dem Gymnaſium oft vom elterlichen Hauſe getrennt, eine ſelbſtändige Stellung ſich zu ſchaffen gelehrt wird. Dennoch kann dieß Syſtem erſt beſeitigt werden, wenn die Gemeinden und Genoſſenſchaften ernſtlich die Berufsbildung in die Hand nehmen. Die Berufung und Stellung der Profeſſoren, von der das ganze Univerſitätsleben zuletzt abhängt, iſt zweitens in Frankreich niemals richtig verſtanden, ſeitdem es ſeine centrale Université beſitzt. Das hat der ganzen gelehrten Fachbildung ihren ſpecifiſchen Charakter gegeben. Es wird am einfachſten dadurch ausgedrückt, daß Frankreich keine Univerſitätsbildung beſitzt, ſondern nur einzelne Fakultäten für die einzelnen Berufe. Aber auch in dieſen Fakultäten iſt das höchſte Element der geiſtigen Bildung, der wiſſenſchaftliche Zuſammen- hang der einzelnen Gebiete unter einander, und die Erzeugung einer Weltanſchauung durch Philoſophie, Geſchichte und Staatswiſſenſchaft nicht vorhanden. Sie ſind Anſtalten für den Erwerb der Berufs- kenntniſſe und nicht mehr. Ihre ganze Organiſation iſt rein amt- lich; ihre Lehrkörper haben keine Selbſtthätigkeit; von Lehr- und Beruf- freiheit iſt keine Rede, weil es ſich eben nicht um die höhere wiſſen- ſchaftliche und geiſtige Entwicklung, ſondern um die Brauchbarkeit für den öffentlichen Dienſt handelt. Das Collegium iſt daher eine Pflicht, nicht eine Aufgabe. Die Vorleſungen ſind in ihrem Objekt ſtreng vor- geſchrieben, wie namentlich die juriſtiſchen; eine ſyſtematiſche Behand- lung gibt es nicht; Geſchichte und Philoſophie fehlen; ſo fehlt der Fakultät die Univerſität, und dieſelbe iſt daher auch, trotz des gleichen Namens, keine deutſche Fakultät, ſondern eine reine Abrichtungsan- ſtalt für den öffentlichen Dienſt, die tief unter den deutſchen wiſſen- ſchaftlichen Körpern ſtehen. Auch dafür indeß iſt das Gefühl in Frank- reich nicht ganz verſchwunden. Das lebendige Bewußtſein, daß die Wiſſenſchaft ein Ganzes iſt, daß ſie ohne claſſiſche Grundlage auch in ihren einzelnen Fächern nie zu ihrer vollen Höhe gedeihen kann, hat ſich erhalten und wird immer wieder durch den Contact mit der deutſchen Wiſſenſchaft lebendig gehalten. Dieß nun zeigt ſich am deutlichſten in

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/326>, abgerufen am 26.04.2024.