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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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wir in der Kenntniß dieser Zustände kommen, um so mehr bestätigt sich
diese Ansicht. Eine unmittelbare Vergleichung mit dem Continent ist
daher nicht möglich, so wenig als eine specielle Darstellung aller ein-
zelnen Schulen und ihrer Zustände von wirklichem Interesse sein könnte.
Ein Ergebniß für jede vergleichende Darstellung ist daher nur in dem
allgemeinen Gesichtspunkt zu finden, von welchem aus gerade dieß Schul-
system verstanden und in sein richtiges Verhältniß zu dem continentalen
gebracht werden muß. Denn in der That ist das englische Berufs-
bildungswesen, trotz seiner völligen System- und Verwaltungslosigkeit
und der Unthunlichkeit, die von uns aufgestellten Kategorien unmittel-
bar auf dasselbe in seinen einzelnen Erscheinungen anzuwenden, dennoch
nur eine andere, eigenthümliche Gestaltung derselben Elemente, welche
das Bildungswesen im Allgemeinen und das Berufsbildungswesen im
Besondern beherrschen. Nur muß man freilich hier mit jenen Be-
griffen und Verhältnissen rechnen, welche man auf die Organisirung
des Unterrichts anzuwenden nicht gewohnt ist, dem Unterschied zwischen
Gesellschaft und Staat und ihren Forderungen und Einflüssen auf das
Bildungswesen.

England ist nämlich bekanntlich dasjenige Land in Europa, wo
das, was wir als die (persönliche) Staatsverwaltung bezeichnet haben,
am wenigsten zur Entwicklung gediehen ist. Den Ausdruck dieses allge-
meinen Satzes bildet der zweite, daß der Amtsorganismus in England am
wenigsten entwickelt ist, und daß die Begriffe von Obrigkeit und öffent-
lichem Beruf so gut als gänzlich fehlen. An der Stelle derselben steht
die Selbstverwaltung, das selfgovernment, welche die Grundform der
gesammten inneren Verwaltung bildet (vergl. die vollziehende Gewalt
unter Selbstverwaltung).

Alle Selbstverwaltung aber beruht ihrerseits auf dem Unterschiede
und der Gestalt der gesellschaftlichen Ordnung der Menschen. Sie ist
im Grunde der Ausdruck der sich innerhalb ihrer Ordnungen selbst
verwaltenden Gesellschaft. Wir dürfen diesen Satz hier als geltenden
annehmen. Wenn nun daher die, ihrem Wesen nach die Gleichheit
und Einheit der Staatsangehörigen vertretende amtliche Staatsorgani-
sation nicht zur Entwicklung gedeiht, dann wird die ganze Organi-
sation und Gestaltung der öffentlichen Thätigkeiten auf der socialen
Ordnung beruhen und ihre Besonderheiten, so wie ihr Recht vom Stand-
punkt der gesellschaftlichen Ordnungen aus verstanden werden müssen.
Das gilt von allen Zweigen der Verwaltung, und so natürlich auch
vom Bildungswesen.

England nun ist dasjenige Land, wo dieß der Fall ist. Seine
gesellschaftlichen Ordnungen und Entwicklungen sind kaum andere, als

wir in der Kenntniß dieſer Zuſtände kommen, um ſo mehr beſtätigt ſich
dieſe Anſicht. Eine unmittelbare Vergleichung mit dem Continent iſt
daher nicht möglich, ſo wenig als eine ſpecielle Darſtellung aller ein-
zelnen Schulen und ihrer Zuſtände von wirklichem Intereſſe ſein könnte.
Ein Ergebniß für jede vergleichende Darſtellung iſt daher nur in dem
allgemeinen Geſichtspunkt zu finden, von welchem aus gerade dieß Schul-
ſyſtem verſtanden und in ſein richtiges Verhältniß zu dem continentalen
gebracht werden muß. Denn in der That iſt das engliſche Berufs-
bildungsweſen, trotz ſeiner völligen Syſtem- und Verwaltungsloſigkeit
und der Unthunlichkeit, die von uns aufgeſtellten Kategorien unmittel-
bar auf daſſelbe in ſeinen einzelnen Erſcheinungen anzuwenden, dennoch
nur eine andere, eigenthümliche Geſtaltung derſelben Elemente, welche
das Bildungsweſen im Allgemeinen und das Berufsbildungsweſen im
Beſondern beherrſchen. Nur muß man freilich hier mit jenen Be-
griffen und Verhältniſſen rechnen, welche man auf die Organiſirung
des Unterrichts anzuwenden nicht gewohnt iſt, dem Unterſchied zwiſchen
Geſellſchaft und Staat und ihren Forderungen und Einflüſſen auf das
Bildungsweſen.

England iſt nämlich bekanntlich dasjenige Land in Europa, wo
das, was wir als die (perſönliche) Staatsverwaltung bezeichnet haben,
am wenigſten zur Entwicklung gediehen iſt. Den Ausdruck dieſes allge-
meinen Satzes bildet der zweite, daß der Amtsorganismus in England am
wenigſten entwickelt iſt, und daß die Begriffe von Obrigkeit und öffent-
lichem Beruf ſo gut als gänzlich fehlen. An der Stelle derſelben ſteht
die Selbſtverwaltung, das selfgovernment, welche die Grundform der
geſammten inneren Verwaltung bildet (vergl. die vollziehende Gewalt
unter Selbſtverwaltung).

Alle Selbſtverwaltung aber beruht ihrerſeits auf dem Unterſchiede
und der Geſtalt der geſellſchaftlichen Ordnung der Menſchen. Sie iſt
im Grunde der Ausdruck der ſich innerhalb ihrer Ordnungen ſelbſt
verwaltenden Geſellſchaft. Wir dürfen dieſen Satz hier als geltenden
annehmen. Wenn nun daher die, ihrem Weſen nach die Gleichheit
und Einheit der Staatsangehörigen vertretende amtliche Staatsorgani-
ſation nicht zur Entwicklung gedeiht, dann wird die ganze Organi-
ſation und Geſtaltung der öffentlichen Thätigkeiten auf der ſocialen
Ordnung beruhen und ihre Beſonderheiten, ſo wie ihr Recht vom Stand-
punkt der geſellſchaftlichen Ordnungen aus verſtanden werden müſſen.
Das gilt von allen Zweigen der Verwaltung, und ſo natürlich auch
vom Bildungsweſen.

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[320/0348] wir in der Kenntniß dieſer Zuſtände kommen, um ſo mehr beſtätigt ſich dieſe Anſicht. Eine unmittelbare Vergleichung mit dem Continent iſt daher nicht möglich, ſo wenig als eine ſpecielle Darſtellung aller ein- zelnen Schulen und ihrer Zuſtände von wirklichem Intereſſe ſein könnte. Ein Ergebniß für jede vergleichende Darſtellung iſt daher nur in dem allgemeinen Geſichtspunkt zu finden, von welchem aus gerade dieß Schul- ſyſtem verſtanden und in ſein richtiges Verhältniß zu dem continentalen gebracht werden muß. Denn in der That iſt das engliſche Berufs- bildungsweſen, trotz ſeiner völligen Syſtem- und Verwaltungsloſigkeit und der Unthunlichkeit, die von uns aufgeſtellten Kategorien unmittel- bar auf daſſelbe in ſeinen einzelnen Erſcheinungen anzuwenden, dennoch nur eine andere, eigenthümliche Geſtaltung derſelben Elemente, welche das Bildungsweſen im Allgemeinen und das Berufsbildungsweſen im Beſondern beherrſchen. Nur muß man freilich hier mit jenen Be- griffen und Verhältniſſen rechnen, welche man auf die Organiſirung des Unterrichts anzuwenden nicht gewohnt iſt, dem Unterſchied zwiſchen Geſellſchaft und Staat und ihren Forderungen und Einflüſſen auf das Bildungsweſen. England iſt nämlich bekanntlich dasjenige Land in Europa, wo das, was wir als die (perſönliche) Staatsverwaltung bezeichnet haben, am wenigſten zur Entwicklung gediehen iſt. Den Ausdruck dieſes allge- meinen Satzes bildet der zweite, daß der Amtsorganismus in England am wenigſten entwickelt iſt, und daß die Begriffe von Obrigkeit und öffent- lichem Beruf ſo gut als gänzlich fehlen. An der Stelle derſelben ſteht die Selbſtverwaltung, das selfgovernment, welche die Grundform der geſammten inneren Verwaltung bildet (vergl. die vollziehende Gewalt unter Selbſtverwaltung). Alle Selbſtverwaltung aber beruht ihrerſeits auf dem Unterſchiede und der Geſtalt der geſellſchaftlichen Ordnung der Menſchen. Sie iſt im Grunde der Ausdruck der ſich innerhalb ihrer Ordnungen ſelbſt verwaltenden Geſellſchaft. Wir dürfen dieſen Satz hier als geltenden annehmen. Wenn nun daher die, ihrem Weſen nach die Gleichheit und Einheit der Staatsangehörigen vertretende amtliche Staatsorgani- ſation nicht zur Entwicklung gedeiht, dann wird die ganze Organi- ſation und Geſtaltung der öffentlichen Thätigkeiten auf der ſocialen Ordnung beruhen und ihre Beſonderheiten, ſo wie ihr Recht vom Stand- punkt der geſellſchaftlichen Ordnungen aus verſtanden werden müſſen. Das gilt von allen Zweigen der Verwaltung, und ſo natürlich auch vom Bildungsweſen. England nun iſt dasjenige Land, wo dieß der Fall iſt. Seine geſellſchaftlichen Ordnungen und Entwicklungen ſind kaum andere, als

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/348>, abgerufen am 26.04.2024.