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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868.

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die allgemeinen Grundlagen, das feste europäische System durchzuführen,
an welches man leicht die einzelnen Bestimmungen anschließen kann.
Wir wiederholen nur hier noch einmal, daß es nichts gibt, was so
sehr das Verständniß des Eigenen fördert, als die Zusammenstellung
mit dem Fremden unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt.

England.

Es will uns scheinen, daß das englische Preßrecht selten seinem
wahren Wesen nach aufgefaßt wird. Es schwebt den meisten noch
immer die Meinung vor, als sei es an und für sich von jeher das
freie Recht der Presse gewesen. Das ist nun gänzlich falsch.
Das einzige, wodurch sich Englands Preßrecht immer vor dem continen-
talen auszeichnet, ist das Festhalten der Geschwornen als Gericht;
im Uebrigen hat England sich trotz alles Redens für seine Preß-
freiheit erst seit 1848 über das Princip des Repressivsystems erheben
können. Bis dahin war der Charakter des englischen Preßrechts nur
der des Repressivsystems, gemildert durch die Anwendung des
Geschwornengerichts
.

Es kann uns nicht unbekannt sein, daß wir mit dieser Ansicht,
und mit der verhältnißmäßig geringen Achtung, die wir damit vor der
formellen englischen Preßgesetzgebung aussprechen, mancher Tradition
entgegentreten. Dennoch ist die Sache nicht anders. Ein freies Preß-
recht in dem Sinne, daß der, in den Schlußfolgerungen aus den ein-
zelnen Sätzen eines Druckwerkes sich ergebende Geist desselben überhaupt
kein Gegenstand eines richterlichen Urtheils sein soll, hat bis dahin in
England nicht existirt; die Polizei ist daneben eine strenge, und das
Polizeistrafrecht ist ausgebildet wie kaum in Frankreich. Wenn daher
trotz dem die Presse in England faktisch frei war, so lag der Grund
nicht in dem formalen Recht, sondern darin, daß die Vertretung des
Volkes selbst so frei dasteht, daß eine Verurtheilung eines Druckwerkes
wegen politischen oder kirchlichen Tendenzen schon in unserm Jahr-
hundert unmöglich erschien. Auch hier muß man daher für England
zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung unterscheiden und nie ver-
gessen, daß auch für die Presse die Gesetzgebung niemals eine orga-
nische, sondern immer nur eine stückweise gewesen ist, bei der die gerichtli-
chen Entscheidungen, wie einst in Rom, oft mehr rechtbildende Gewalt
haben, als die Gesetze selbst. Der Gang der Entwicklung ist folgender.

I. Die ständische Epoche des englischen Preßrechts ist der con-
tinentalen vollkommen gleich. Schon unter Heinrich IV. das Stat.
de haeretio comburendo
(1400) mit strengem Verbot des Ab-
fassens und Abschreibens von Büchern gegen den Glauben; unter

die allgemeinen Grundlagen, das feſte europäiſche Syſtem durchzuführen,
an welches man leicht die einzelnen Beſtimmungen anſchließen kann.
Wir wiederholen nur hier noch einmal, daß es nichts gibt, was ſo
ſehr das Verſtändniß des Eigenen fördert, als die Zuſammenſtellung
mit dem Fremden unter dem gemeinſamen Geſichtspunkt.

England.

Es will uns ſcheinen, daß das engliſche Preßrecht ſelten ſeinem
wahren Weſen nach aufgefaßt wird. Es ſchwebt den meiſten noch
immer die Meinung vor, als ſei es an und für ſich von jeher das
freie Recht der Preſſe geweſen. Das iſt nun gänzlich falſch.
Das einzige, wodurch ſich Englands Preßrecht immer vor dem continen-
talen auszeichnet, iſt das Feſthalten der Geſchwornen als Gericht;
im Uebrigen hat England ſich trotz alles Redens für ſeine Preß-
freiheit erſt ſeit 1848 über das Princip des Repreſſivſyſtems erheben
können. Bis dahin war der Charakter des engliſchen Preßrechts nur
der des Repreſſivſyſtems, gemildert durch die Anwendung des
Geſchwornengerichts
.

Es kann uns nicht unbekannt ſein, daß wir mit dieſer Anſicht,
und mit der verhältnißmäßig geringen Achtung, die wir damit vor der
formellen engliſchen Preßgeſetzgebung ausſprechen, mancher Tradition
entgegentreten. Dennoch iſt die Sache nicht anders. Ein freies Preß-
recht in dem Sinne, daß der, in den Schlußfolgerungen aus den ein-
zelnen Sätzen eines Druckwerkes ſich ergebende Geiſt deſſelben überhaupt
kein Gegenſtand eines richterlichen Urtheils ſein ſoll, hat bis dahin in
England nicht exiſtirt; die Polizei iſt daneben eine ſtrenge, und das
Polizeiſtrafrecht iſt ausgebildet wie kaum in Frankreich. Wenn daher
trotz dem die Preſſe in England faktiſch frei war, ſo lag der Grund
nicht in dem formalen Recht, ſondern darin, daß die Vertretung des
Volkes ſelbſt ſo frei daſteht, daß eine Verurtheilung eines Druckwerkes
wegen politiſchen oder kirchlichen Tendenzen ſchon in unſerm Jahr-
hundert unmöglich erſchien. Auch hier muß man daher für England
zwiſchen dem Geſetz und ſeiner Anwendung unterſcheiden und nie ver-
geſſen, daß auch für die Preſſe die Geſetzgebung niemals eine orga-
niſche, ſondern immer nur eine ſtückweiſe geweſen iſt, bei der die gerichtli-
chen Entſcheidungen, wie einſt in Rom, oft mehr rechtbildende Gewalt
haben, als die Geſetze ſelbſt. Der Gang der Entwicklung iſt folgender.

I. Die ſtändiſche Epoche des engliſchen Preßrechts iſt der con-
tinentalen vollkommen gleich. Schon unter Heinrich IV. das Stat.
de haeretio comburendo
(1400) mit ſtrengem Verbot des Ab-
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[124/0140] die allgemeinen Grundlagen, das feſte europäiſche Syſtem durchzuführen, an welches man leicht die einzelnen Beſtimmungen anſchließen kann. Wir wiederholen nur hier noch einmal, daß es nichts gibt, was ſo ſehr das Verſtändniß des Eigenen fördert, als die Zuſammenſtellung mit dem Fremden unter dem gemeinſamen Geſichtspunkt. England. Es will uns ſcheinen, daß das engliſche Preßrecht ſelten ſeinem wahren Weſen nach aufgefaßt wird. Es ſchwebt den meiſten noch immer die Meinung vor, als ſei es an und für ſich von jeher das freie Recht der Preſſe geweſen. Das iſt nun gänzlich falſch. Das einzige, wodurch ſich Englands Preßrecht immer vor dem continen- talen auszeichnet, iſt das Feſthalten der Geſchwornen als Gericht; im Uebrigen hat England ſich trotz alles Redens für ſeine Preß- freiheit erſt ſeit 1848 über das Princip des Repreſſivſyſtems erheben können. Bis dahin war der Charakter des engliſchen Preßrechts nur der des Repreſſivſyſtems, gemildert durch die Anwendung des Geſchwornengerichts. Es kann uns nicht unbekannt ſein, daß wir mit dieſer Anſicht, und mit der verhältnißmäßig geringen Achtung, die wir damit vor der formellen engliſchen Preßgeſetzgebung ausſprechen, mancher Tradition entgegentreten. Dennoch iſt die Sache nicht anders. Ein freies Preß- recht in dem Sinne, daß der, in den Schlußfolgerungen aus den ein- zelnen Sätzen eines Druckwerkes ſich ergebende Geiſt deſſelben überhaupt kein Gegenſtand eines richterlichen Urtheils ſein ſoll, hat bis dahin in England nicht exiſtirt; die Polizei iſt daneben eine ſtrenge, und das Polizeiſtrafrecht iſt ausgebildet wie kaum in Frankreich. Wenn daher trotz dem die Preſſe in England faktiſch frei war, ſo lag der Grund nicht in dem formalen Recht, ſondern darin, daß die Vertretung des Volkes ſelbſt ſo frei daſteht, daß eine Verurtheilung eines Druckwerkes wegen politiſchen oder kirchlichen Tendenzen ſchon in unſerm Jahr- hundert unmöglich erſchien. Auch hier muß man daher für England zwiſchen dem Geſetz und ſeiner Anwendung unterſcheiden und nie ver- geſſen, daß auch für die Preſſe die Geſetzgebung niemals eine orga- niſche, ſondern immer nur eine ſtückweiſe geweſen iſt, bei der die gerichtli- chen Entſcheidungen, wie einſt in Rom, oft mehr rechtbildende Gewalt haben, als die Geſetze ſelbſt. Der Gang der Entwicklung iſt folgender. I. Die ſtändiſche Epoche des engliſchen Preßrechts iſt der con- tinentalen vollkommen gleich. Schon unter Heinrich IV. das Stat. de haeretio comburendo (1400) mit ſtrengem Verbot des Ab- faſſens und Abſchreibens von Büchern gegen den Glauben; unter

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 6. Stuttgart, 1868, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre06_1868/140>, abgerufen am 26.04.2024.